Der Schriftsteller Colson Whitehead hat die beiden grossen US-Literaturpreise gewonnen, den Pulitzer-Preis sogar zweimal. Ein Gespräch über die damit verbundene Verantwortung, den Umgang der USA mit Sklaverei und den Unterschied zwischen Qualität und Erfolg.
SRF: Vor zwei Jahren wurden Sie auf dem Cover des «Time Magazine» als «America’s Storyteller» bezeichnet. Ein Ehrentitel, der im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung auch als «Geschichtenerzähler des schwarzen Amerikas» verstanden werden kann.
Colson Whitehead: Ich sehe das nicht so. Wenn ich für ein schwarzes Amerika spreche, dann für mein schwarzes Amerika. Es gibt in den USA 30 Millionen von uns, und niemand kann Anspruch darauf erheben, für die ganze Community zu sprechen.
Ich bin ein ganz normaler Typ, der sich Mühe gibt, die nächste Idee nicht zu vermasseln. Wenn sich andere davon angesprochen fühlen, ist das toll. Bei einigen Büchern war das so, bei anderen nicht.
Sie sagten einmal: «Die Erwartungen anderer Menschen sind genau das: die Erwartungen anderer Menschen.» Das klingt wahnsinnig cool, aber ebenso illusorisch.
Ich habe aufgehört, mir zu überlegen, was den Leuten gefallen könnte. Ich kann das schlicht nicht vorhersehen. Alles, was ich tun kann, ist die Bücher zu schreiben, die mir selber gefallen.
Ausserdem sind künstlerische Qualität und Erfolg unterschiedliche Dinge. Ich halte «The Noble Hustle», mein Buch über Poker, für eines meiner besten Bücher. Aber niemand mochte es wirklich.
Sie haben sich erst spät den beiden Geschichten zugewandt, die von rassistischer Gewalt und Unterdrückung handeln. Die Bücher wurden später mit dem Pulitzer-Preis gekrönt. Was bewirkte den Wandel?
Die Idee zu «Underground Railroad» entstand im Jahr 2000. Ich war damals aber noch nicht so weit, ein Buch über die Sklaverei zu schreiben.
Warum nicht?
Ich hatte schlicht Angst. Ich hielt mich nicht für gut genug als Schriftsteller, um das Thema der Sklaverei anzugehen. Also schrieb ich andere Bücher und fragte mich immer wieder, ob ich bereit war. Bis 2014 war die Antwort immer: nein. Ich hatte es offensichtlich 14 Jahre lang aufgeschoben.
Dutzende Millionen Rassisten in den USA verschwinden nicht einfach.
Dann haben Sie das Buch aber geschrieben und danach «Die Nickel Boys». In beiden Büchern arbeiten Sie ein Stück amerikanische Unterdrückungsgeschichte auf. Wo steht die US-amerikanische Gesellschaft heute?
Vor zwölf Jahren, als Barack Obama Präsident wurde, hörte man oft, die Gesellschaft hätte ihren Rassismus überwunden. Das ist Unsinn! Keine schwarze Person würde ernsthaft von einer post-rassistischen Gesellschaft sprechen.
Dutzende Millionen Rassisten in den USA verschwinden nicht einfach. Es gibt immer noch viel zu viele von ihnen für eine funktionierende Gesellschaft.
Die Philosophin Susan Neiman hat in einem viel beachteten Buch den Impuls gegeben, die USA sollten sich zur Aufarbeitung ihrer Gewaltgeschichte ein Beispiel an Deutschland und den Verbrechen des NS-Regimes nehmen. Könnten Sie sich das vorstellen?
Wie wünschte ich mir das! Aber diesen Sommer gab es wütende Proteste weisser Eltern. Sie verlangten, dass Kinder an den Schulen davor bewahrt werden müssten, von der verstörenden Geschichte der Sklaverei, der Segregation und all ihren Folgen zu hören.
Der Widerstand, dies aufzuarbeiten, ist immer noch schockierend gross. Ich sehe nicht, dass irgendetwas in der Art geschehen wird, solange ich lebe.
Die Fragen stellte Wolfram Eilenberger. (Das Interview ist die gekürzte Fassung eines längeren Gesprächs, das im Rahmen der «Sternstunde Philosophie» geführt wurde.)