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US-Kultautorin ist tot Joan Didion war eine stille Beobachterin und gnadenlose Analystin

Mit ihren gefeierten Essays über die US-Kultur und später den Tod ihrer Liebsten hielt die US-Autorin Joan Didion den USA und der Welt den Spiegel vor. Nun ist sie 87-jährig verstorben.

Sie wirkte noch fragiler als Audrey Hepburn, doch das war eine Äusserlichkeit, auf die sie selbst nur wenig gab. Ihr messerscharfer Verstand, ihre unerschöpfliche Neugier und ihr unbestechlicher Stil machten Joan Didion zu Amerikas bedeutendster Essayistin.

Sie schien zeitlebens ein bisschen abwesend, aber das täuschte. Ihre leidenschaftliche Teilhabe hing sie so wenig an die grosse Glocke wie ihre Freundschaften zu Vanessa Redgrave, Harrison Ford oder Martin Scorsese.

Junge Frau mit Zigarette
Legende: Joan Didion mit Zigarette im Jahr 1968. Im selben Jahr sollte ihr erster Essayband «Slouching Towards Bethlehem» über das Kalifornien der 1960er Jahre erscheinen. imago images

Joan Didion wurde 1934 in Sacramento, Kalifornien, geboren. Wie für andere begabte junge Frauen in den 1950er Jahren wurde der Schreibwettbewerb der New Yorker Zeitschrift «Mademoiselle» ihr Tor zur Welt. Sie gewann ihn 1955. Ein Jahr später, nach Abschluss ihres Literaturstudiums, reüssierte sie auch noch bei jenem der «Vogue», wo sie acht Jahre blieb.

Didion entwickelte und perfektionierte ihr Spiel mit dem Innen und Aussen. Denken war sexy und Stil Charakter – eine Haltung, die sie noch als 80-Jährige pflegte, als sie für das Modelabel Céline posierte. Wobei sie immer Distanz wahrte. Auch im Netflix-Dokumentarfilm, den ihr Neffe Griffin Dunne 2017 über sie drehte, gab sie sich nie ganz zu erkennen.

Frau sitzt in einem Kino
Legende: Joan Didion war eine begnadete (und gnadenlose) Romancière und Drehbuchschreiberin. Liz O. Baylen/Los Angeles Times via Getty Images

Schreiben ohne Narzissmus

Didion war eine begnadete (und gnadenlose) Romancière und Drehbuchschreiberin. Berühmt wurde sie allerdings mit ihren Artikeln und literarischen Essays. Sie gilt neben Grössen wie Norman Mailer und Truman Capote als wichtigste Vertreterin des New Journalism.

Das Genre mit seiner Verquickung von Subjektivem und Objektivem war wie gemacht für sie. Ohne jeden Narzissmus brachte sie sich selbst ins Spiel. So schuf sie aus harten Fakten Resonanzräume, in denen sich auch die Leserinnen und Leser finden konnten.

Kultbuch «The White Album»

Egal, ob es um die Hippie-Bewegung, Rassismus, politische Manipulation, Kriegstreiberei oder den Sexismus Hollywoods ging – Didion zerfetzte den amerikanischen Traum.

Eine gute Interviewerin, sagte sie von sich, sei sie nicht gewesen. Trotzdem konnte sie wunde Punkte ansteuern: «Ich bin so klein, so unscheinbar und auf eine so neurotische Weise mundfaul, dass die Leute bald vergessen, dass meine Anwesenheit ihnen schaden könnte.»

Ein erstes Kultbuch schuf sie 1979 mit «The White Album» («Das weisse Album»), einer Sammlung von Essays über das krisenhafte Kalifornien der 1960er Jahre. Für viele ist es Didions bestes Buch. Es verbindet das Gefühl, dass etwas faul sei im Staate Amerika mit dem Rapport einer persönlichen psychischen Krise.

Geschichten erzählen, um zu leben

Neben Interviews mit Black-Panther-Mitgliedern, den Doors oder einer Jüngerin des Massenmörders Charles Manson (die Schauspielerin Sharon Tate, eines seiner Opfer, war eine Bekannte Didions), erzählt Joan Didion von einem psychotischen Schub, den sie damals erlitt. «In dieser Zeit», schreibt sie, habe sie begonnen, «die Gültigkeit aller Geschichten, die ich mir selbst je erzählt hatte, von Grund auf anzuzweifeln».

Mittelalte Frau spricht an einem Rednerpult
Legende: Joan Didion im Jahr 1977 bei einem Auftritt in Kalifornien. Getty Images

Das Buch schildert, wie das Leben durch Geschichten pervertiert wird. Didion zeigt ein unversöhnliches Nebeneinander, brutale Gegensätze, die in der Aussenwelt den Gründerväter-Mythos als schäbige Lüge entlarven und in der Innenwelt ein Ich zum Zerbröseln bringen, ohne dass ihm zu helfen wäre.

Trauer ohne Trost

Es ist eine ähnliche Dynamik wie in «The Year Of Magical Thinking» («Das Jahr magischen Denkens», 2005), dem Buch, das Joan Didion weltberühmt machte. Darin schreibt sie über den plötzlichen Herztod ihres Ehemanns John Gregory Dunne. Er war völlig unerwartet einfach zusammengebrochen.

Joan Didion schildert ihren Trauerprozess in den grellsten Tönen und mit analytischer Kälte. Es ist ein Buch ohne Trost – und etwas vom Genauesten, was man über Trauer lesen kann.

2011 veröffentlichte sie nochmals ein Trauerbuch, «Blue Nights» («Blaue Stunden»). Nach über einem Jahr im Koma war ihre Adoptivtochter Quintana gestorben.

Didion wählte den Titel, weil ihre Gedanken «mehr und mehr um Krankheit zu kreisen begannen, um die Unvermeidbarkeit des Verschwindens, das Ende aller Versprechen und das Verlöschen des Lichts.»

Am 23. Dezember ist nun auch ihr eigenes Licht verloschen. Joan Didion starb im Alter von 87 Jahren in New York.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Nachrichten, 24.12.2021, 07:00 Uhr

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