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Literatur Verena Stefans Denkmal für ihren Grossvater - den Abtreibungsarzt

Mit «Häutungen» wurde die Bernerin Verena Stefan 1975 international berühmt. Jetzt widmet die Autorin ihrem Grossvater ein literarisches Denkmal: Ein Dorfarzt, der wegen illegalen Abtreibungen in die Mühlen der Justiz gerät, ist Hauptfigur im Roman «Die Befragung der Zeit».

Julius Brunner verlangte 180 Franken für eine Abtreibung. Und obwohl ihm die Polizei dies immer wieder unterstellte, war es nicht das Geld, das ihn zu diesen illegalen Taten bewog. Nein, er sei schlicht und einfach zu schwach gewesen, dem Drängen der Hilfesuchenden zu widerstehen, betont er im Verhör 1949: «Die Frauen haben jeweils gebettelt und gebeten, bis ich mich erweichen liess. Ich bin besonders in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sehr leicht beeinflussbar geworden.»

Fakten und Fiktion

Porträt von Verena Stefan in schwarzweiss.
Legende: Verena Stefan ist bekannt für feministische Literatur. Inwieweit ist auch die «Die Befragung der Zeit» ein Plädoyer? SRF/Lukas Maeder

Solche Originalzitate webt Verena Stefan immer wieder in ihren Roman ein. Der Fall ihres Grossvaters hat eine 800-Seiten starke Akte gefüllt, welche die Autorin im Staatsarchiv des Kanton Berns studieren konnte. Auch erhielt sie so Einblicke in Krankengeschichten und las Briefe aus jener Zeit. Diese Dokumente unterfüttern die erdichtete Geschichte; heute könne zum Teil nicht einmal mehr die 66-jährige Autorin selbst unterscheiden, wo die Realität aufhört und die Fiktion beginnt.

Sie selber ist im Haus der Grosseltern aufgewachsen, war aber damals noch zu klein, um die Gründe für die deprimierte Stimmung und die lauten Streitereien zu begreifen. Gefühlsmässig sei ihr die belastende Atmosphäre jedoch deutlich in Erinnerung geblieben. Und sie könne gut verstehen, dass ausgerechnet sie – im Roman heisst sie Rosa – die grosse Altersliebe für ihren Grossvater darstellte. Als einzige in der Familie begegnete sie ihm frei von jeglichen Vorwürfen.

Die Schmach für die Angehörigen

Heute, im Rückblick, kann Verena Stefan allerdings selber nicht verstehen, warum sich der alte, herzkranke Doktor im Februar 1949 noch einmal einer schwangeren Frau erbarmte. Denn es war das eine Mal zuviel: Ein paar Tage später stand die Polizei vor der Haustür und führte Julius Brunner in aller Öffentlichkeit ab. Diese Schmach hat vor allem die Angehörigen getroffen. «Meine Mutter hat mir später oft davon erzählt, wie schlimm dieser Moment für sie gewesen sei», sagt Verena Stefan.

Brunner kam – aus gesundheitlichen Gründen – nicht ins Amtshaus, sondern in die psychiatrische Klinik Waldau. Dort wurde er über Wochen in die Mangel genommen. Diese Erfahrungen haben den beliebten Dorfarzt zermürbt und gebrochen. Und wohl auch endgültig von seiner Frau Lina entfremdet, die sich stets in ein anderes Leben träumte.

Ein tiefgründiger Bericht

Buchhinweis

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Verena Stefan: «Die Befragung der Zeit», Nagel & Kimche Verlag, 2014.

Die sensible Art und Weise, wie Verena Stefan ihre Grosseltern darstellt ohne zu richten, macht den Roman zum Erlebnis. Es ist keine Heldengeschichte, auch kein Plädoyer für oder gegen Abtreibung, sondern ein poetischer, tiefgründiger Bericht über Menschen, die in eigenen Mustern gefangen sind und Opfer werden ihrer Zeit. Glücksmomente blitzen auf – etwa wenn die kleine Rosa den alten Mann im Garten bei der Hand nimmt und ihn für Minuten vergessen lässt, dass er in den Augen von Richtern und Nachbarn als Krimineller dasteht.

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