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Vorwürfe gegen Annie Ernaux Ist die Literatur-Nobelpreisträgerin eine Antisemitin?

Aufruf zum ESC-Boykott in Israel, Sympathien für BDS: Die Antisemitismusvorwürfe werfen einen Schatten auf die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux. Was ist an den Anschuldigungen dran?

Worauf beziehen sich die Antisemitismus-Vorwürfe gegen Annie Ernaux? Annie Ernaux hat in der Vergangenheit Aufrufe und Petitionen mitunterzeichnet, in denen zum Boykott gegen Israel aufgerufen wurde. Zudem ist sie Unterstützerin der politischen Kampagne BDS. BDS steht für «Boycott, Divestment and Sanctions», auf Deutsch «Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen».

Ernaux hatte auch zu einem Boykott des European Song Contest aufgerufen, als der in Israel stattfand. «Ihr Handeln lässt sich vielleicht aus ihrem nibelungentreuen Festhalten an Positionen der extremen Linken erklären, die in der Tat ein Problem mit Israel und vielleicht sogar mit dem Antisemitismus hat», sagt Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte, Professor an der Université de la Sorbonne in Paris.

Kann man Annie Ernaux als Antisemitin bezeichnen? Es gibt keine explizit antisemitischen Äusserungen von ihr. «Aber sie bewegt sich in einem Fahrwasser, das gefährlich nah am Antisemitismus vorbeischrammt», so Ritte. Vordergründig gehe es um Kritik an Israel, die durchaus gerechtfertigt ist – und um Antikolonialismus. Das Problem sei, dass man die Opfer immer nur auf der einen Seite sehe, nämlich auf der palästinensischen, und nie auf der anderen, so Ritte.

Problematisch ist vor allem der Vorwurf, Israel sei ein Apartheidsregime, der von Annie Ernaux mitunterzeichnet wurde. «Das ist in der Tat grober und fahrlässiger Unfug», sagt Ritte.

Hat sich Ernaux’ Gedankengut in ihren Büchern niedergeschlagen? Ihre Literatur baut vor allem auf ihrer Herkunft auf. Sie stammt aus eher bescheidenen Verhältnissen. In ihren Werken transportiert sie diese kollektive Erfahrung des Aufsteigens, des Verlassens eines familiären Kontexts, einer sozialen Schicht. «Antisemitisches findet man in ihrer Literatur nicht. Aber wir stehen bei Annie Ernaux vielleicht vor dem Befund, dass ein guter Autor nicht unbedingt auch ein kluger Bürger sein muss», sagt Professor Jürgen Ritte.

Mit welchen Folgen muss Annie Ernaux selbst und für ihr Werk angesichts der Antisemitismusdebatte nach dem Literaturnobelpreis befürchten? Diese Debatte wird im Moment vor allem in Deutschland geführt. Dort hat man die Kritik mit einiger Überraschung erst jetzt festgestellt. In Frankreich ist Annie Ernaux’ Engagement auf der linksradikalen Seite schon seit Langem bekannt. In den ersten Würdigungen nach Bekanntgabe des Nobelpreises wurde das auch erwähnt. Für ihre Anti-Israel-Stellungnahmen wurde sie von der französischen Öffentlichkeit auch bereits hart kritisiert.

«Frankreich hat ein Antisemitismusproblem, sogar ein gewaltiges – vor allem die französische Linke hat eines», so Ritte: «Damit muss Annie Ernaux fertig werden. Im Rahmen des Literaturnobelpreises wurde das von ihrer Literatur getrennt.»

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SRF 1, Tagesschau, 6.10.2022, 19:30 Uhr

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