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Literatur Wahn(sinn) im Grossraumbüro

Das psychologische Milieu des Grossraumbüros als Biotop des Irrsinns: Mit dem Roman «Das Zimmer» ist dem schwedischen Autor Jonas Karlsson eine packende Groteske über die moderne Arbeitswelt gelungen.

Jonas Karlsson erschafft in seinem Roman «Das Zimmer» eine eigenartige Mischung aus Spannung und Beklemmung – wie man sie auch in den Erzählungen bei Kafka oder Gogol findet. Sie geht einem hier wieder ganz gehörig an die Nieren.

Bei Karlsson ist es ein Ich-Erzähler mit Namen Björn, der aus seinem Alltag als Angestellter in einem Grossraumbüro erzählt, und der beim Leser mehr und mehr für Irritation sorgt: Je länger man ihm zuhört, desto mehr schleichen sich nämlich Zweifel ein: Kann das stimmen, was der Mann erzählt? Lügt er uns alle an? Oder ist er am Ende gar verrückt?

Buchhinweis

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Jonas Karlsson: «Das Zimmer», Luchterhand 2016.

Der bei uns bisher wenig bekannte Autor Jonas Karlsson führt seine Leserinnen und Leser sehr gekonnt aufs Glatteis und beweist dadurch grosses erzählerisches Können. Es erstaunt nicht, dass er mit diesem Werk erstmals weit über seine Heimat Schweden hinaus viel Applaus erhält.

Entdeckung des geheimen Zimmers

Es beginnt alles ganz harmlos: Björn berichtet von seiner neuen Stelle, die er bei einer staatlichen Behörde antritt. Der Arbeitsplatz ist in einem Grossraumbüro. Der Mann strotzt vor Selbstvertrauen. Er blickt voll Herablassung auf die Kolleginnen und Kollegen, deren Arbeit er als minderwertig erachtet. Er sieht sich bereits als zukünftiger Chef. Allerdings ist Björn am neuen Ort dennoch nicht wohl: Er fühlt sich von den anderen beobachtet und ausgegrenzt.

Entscheidend für die Handlung ist jener Tag, als Björn auf der einen Seite des Grossraumbüros ein Zimmer entdeckt, von dem offenbar niemand weiss, und das schon seit langer Zeit von niemandem mehr benützt worden ist. Es sei «ein relativ kleines Zimmer», erzählt er, mit einem Tisch in der Mitte und einem Computer. «Es sah ein wenig arrangiert aus. Vorbereitet. Als würde dieses Zimmer auf jemanden warten.»

Das eigenartige Zimmer wird für Björn zum Refugium, in das er sich fortan immer wieder zurückzieht. Es gibt ihm jene Intimität, die ihm im Grossraum fehlt. Irgendetwas aber stimmt da nicht: Die Besuche werden zwanghaft. Und eines Tages wird Björn von seinem Pultnachbarn zur Rede gestellt: Was es eigentlich solle, will jener wissen, dass Björn immer wieder für Minuten wie versteinert auf einer Seite des Grossraumbüros an der Wand stehe.

Der unzuverlässige Erzähler

Wie bitte? Wenn Björn uns Leserinnen und Lesern von seinen Besuchen im Zimmer erzählt, ist er offenbar gar nicht dort, sondern er steht – zumindest für die Augen der anderen im Büro – unbeweglich an der Wand! Gibt es dieses Zimmer am Ende gar nicht? Leidet Björn an Wahnvorstellungen?

Zu diesem Schluss kommt Björns Chef. Er schickt seinen sonderbaren Untergebenen zum Psychiater. Aber dieser findet nichts Aussergewöhnliches und kommt gegenüber Björn zum Schluss: «Ich würde sagen, Sie simulieren.»

Triller, Parabel oder Vivisektion? Alles!

Man ist als Leser vielleicht ein wenig erleichtert. Es ist also doch alles normal. Oder doch nicht? Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Grossraumbüro jedenfalls hören nicht auf, sich vor ihrem sonderbaren Kollegen zu fürchten. Björn wiederum beklagt sich, er werde gemobbt – und er flüchtet sich in immer fantastischere Überlegenheits-Phantasien.

Immer wieder verdrückt er sich ins geheime Zimmer. Der Chef verbietet ihm dies, zumal es dieses Zimmer ja gar nicht gebe. Die Groteske beginnt sich zu überschlagen.

Und irgendwann stellt man sich die Frage, was dieser Roman eigentlich ist: Eine Vivisektion der entmenschlichten Arbeitswelt? Oder eine Parabel auf den Anpassungsdruck in der modernen Gesellschaft? Oder schlicht ein originell konstruierter psychologischer Thriller? Vermutlich alles miteinander – und dabei fesselnd von der ersten bis zu letzten Seite.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 19.5.2016, 16.50 Uhr.

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