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Was liest Christoph Keller? «Nachts lese ich ‹Dracula›, tags ‹Aus der Zuckerfabrik›.»

Dank Jules Verne sprang einst der Lesefunke auf den fünfjährigen Christoph Keller über. Seither hat er ihn nie mehr losgelassen. Als Lese-Gourmand liest Keller heute gern und viel - nur das sehr Lange von Proust kann er einfach nicht beenden. Im Interview erzählt der Schriftsteller und Literaturclub-Gastkritiker von den Büchern seines Lebens.

Christoph Keller

Schriftsteller

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Christoph Keller lebt nach vielen Jahren in New York heute wieder in St. Gallen und verfasst Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Aufgrund einer spinalen Muskelatrophie (SMA Typ III) ist er auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. In diesem Zusammenhang erschien von ihm zuletzt das Buch «Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exkursion» (Limmat-Verlag, 2020).

SRF: Welches ist Ihr liebstes Buch?

Christoph Keller: Ich würde mich nie auf nur eines festlegen. Immer wieder meldet sich ein Lieblingsbuch, und das Schöne daran ist, dass sie nicht mehr weggehen, sondern meine Idealbibliothek bauen werden, solange ich lese.

Um nur einige zu nennen – da stehen stets griffbereit Gogols «Petersburger Erzählungen» neben Günter Eichs Gedichten, Clarice Lispectors Erzählungen neben James Baldwins Essays, Kafkas «Die Verwandlung» - ach, alles von Kafka! – neben Olga Tokarczuks «Gesang der Fledermäuse». Und Bohumil Hrabals «Sanfte Barbaren», und, und ...

Ihr bevorzugter Leseort?

Unter einem Baum.

Der Lesefunken sprang über und ist nicht mehr zu löschen.

Mehrere Bücher gleichzeitig? Oder eins nach dem anderen?

Das angestrebte Ziel: eins nach dem anderen. Die wohlige Wirklichkeit: möglichst viele nebeneinander. Ich fange an, tauche ein ... Ich bin ein Lesegourmet, und manchmal eben auch -gourmand.

Nachts lese ich zur Zeit Bram Stokers «Dracula» auf dem iPad – unheimlich blicken mich die von hinten beleuchteten Seiten an –, tagsüber C.F. Ramuz «Derborence» in Buchform, dann vertiefe ich mich in Dorothee Elmigers «Aus der Zuckerfabrik», weil wir bald ein öffentliches Gespräch über unsere neuen Bücher führen werden, ich lese einige Stellen in Naomi Kleins «The Shock Doctrine», danach in John Bergers «Keeping a Rendezvous», weil ich für einen neuen Roman recherchiere.

Ein Buch, das Ihnen die Liebe zum Lesen eröffnet hat?

Jules Vernes «Die Reise zum Mittelpunkt der Erde». Mit etwa fünf begann ich mein ehrgeiziges Projekt, in unserem Garten ein Loch durch die Erde zu graben.

Auch wenn es im Buch Professor Otto Lidenbrock nur bis zum Mittelpunkt der Erde schaffte, so kam er doch entscheiden weiter als ich, der ich es nur gerade 75 Zentimeter weit brachte. Der Lesefunken aber sprang über und ist nicht mehr zu löschen.

Eins, das Sie immer wieder zur Hand nehmen?

Michail Bulgakows «Der Meister und Margarita» hat mich seit der ersten Lektüre nicht losgelassen. Ich wollte es auf Russisch lesen, habe deswegen an der Universität Slawistik belegt. Seither lese ich es so alle fünf Jahre wieder. Eine schärfere und witzigere Satire kenne ich nicht.

Ein Buch, um die USA zu verstehen?

Vladimir Nabokovs «Lolita», den grossen amerikanischen Roman, den die Amis dauernd schreiben müssen, tatsächlich aber längst geschrieben ist. Dazu aktuell Ayad Akhtars «Homeland Elegien». Brutal aktuell. Seziert das heutige Amerika messerscharf.

Eine Leseleiche: ein Buch, das Sie einfach niemals beenden?

Das sehr lange von Proust.

Ein Buch, das Sie gerne verschenken?

Meine eigenen. Irgendwie müssen sie ja unter die Leute kommen.

Ein Buch, dem Sie mehr Leser wünschen?

Eins, das eben erschienen ist und auch ohne meinen frommen Wunsch jede Menge Leserinnen finden wird: «Fern von hier», die gesammelten Erzählungen der Kleinprosagrossmeisterin Adelheid Duvanel.

 Das Gespräch führte Markus Tischer.

SRF 1, Literaturclub, 18.5.2021, 22:25 Uhr. ; 

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