«Ich wusste schon immer, wie es sich anfühlt, eine Protagonistin in der Geschichte eines anderen zu sein», schreibt Nadja Spiegelman. Seit ihrer Geburt taucht sie in den Comics ihres Vaters Art Spiegelman auf.
In «Maus», seinem berühmten Comic über den Holocaust, ist die Geburt der Tochter mit einem Sternchen markiert. «Als ich das Licht der Neonröhren im St. Vincent’s Hospital im East Village erblickte, fiel ein anderer Teil von mir aus dem Stift meines Vaters als schwarze Tintenträne auf die Seite.»
Schluss mit der Nebenrolle
Nun hat Nadja Spiegelman genug von dieser Nebenrolle und hat ihre eigene Familiengeschichte geschrieben. Darin geht es allerdings nicht um den Vater und seine jüdische Familie, sondern um die Person, die Spiegelman am meisten geprägt hat: ihre Mutter.
Auch sie ist keine Unbekannte. Françoise Mouly hat gemeinsam mit ihrem Mann die New Yorker Comic-Szene geprägt und sich als Lektorin einen Namen gemacht, bevor sie Art Director bei der Kulturzeitschrift «The New Yorker» wurde.
Annäherung statt Abrechnung
Neben einer so erfolgreichen Mutter als Tochter zu bestehen, kann schwer sein. Davon erzählt Nadja Spiegelman. Vor allem in der Pubertät ist die Beziehung zunehmend von Wut, Enttäuschung und erbitterten Machtkämpfen geprägt.
Doch das Buch ist keine Abrechnung mit der ungerechten Mutter. Im Gegenteil, es ist die Geschichte einer Annäherung. Und einer Versöhnung. Denn Spiegelman stellt ihren eigenen Erinnerungen die Jugenderinnerungen der Mutter gegenüber, die sie ihr in unzähligen Interviews abgerungen hat.
Unglückliche Kindheit
Neben den Erzählungen der Mutter wirken Nadjas Verletzungen fast lächerlich. Wenn je eine Tochter eine böse Mutter hatte, dann war es Françoise Mouly!
Ihre Kindheit in Paris war geprägt von den hässlichen Streitereien ihrer Eltern. Ihr Vater war als Schönheitschirurg sehr reich geworden, doch die Eltern hassten sich und missbrauchten die Kinder für ihren Ehekrieg.
Keine leichte Kost
«Wie hast Du das überlebt?», fragt Spiegelman ihre Mutter, als sie erfährt, wie grausam sie von der Mutter oft behandelt wurde.
Was Spiegelman über die Vergangenheit ihrer Mutter ans Licht zerrt, ist keine leichte Kost. Und man fragt sich gelegentlich: Wieviel Privates darf man über sich und seine Mutter preisgeben?
Jede Mutter ist eine Tochter
Erst der letzte Streich der Familiensaga macht deutlich, wie brillant Spiegelmans Projekt ist: Denn sie lässt jetzt auch die Grossmutter erzählen.
Diese streitet alles ab, kann sich an keinen einzigen Streit mit der Tochter erinnern. Dafür erinnert sie sich daran, wie sie selbst von der Mutter vernachlässigt wurde. Und wie sie sich nach deren Liebe verzehrt hat.
Erzählen, um zu verzeihen
Nun wird klar, dass dieses Buch nicht nur eine Familiengeschichte ist, sondern eine Geschichte darüber, wie man als Tochter erwachsen werden und seiner Mutter verzeihen kann – unabhängig davon, wie schwer ihre Schuld wiegt.
Und es ist ein Buch, mit dem sich Nadja Spiegelman aus ihrer Nebenrolle als Tochter befreit und zeigt, dass sie sich neben den berühmten Eltern problemlos als Schriftstellerin behaupten kann.