«Ich liebe seit heute Helga Schubert!», rief Philipp Tingler, Neo-Juror beim Klagenfurter Wettlesen und SRF-Literaturkritiker, in die Runde.
Es war am Freitag, dem zweiten von drei Vorlesetagen mit 14 eingeladenen Autorinnen und Autoren. Die in Mecklenburg wohnhafte Helga Schubert hatte soeben ihren Text «Vom Aufstehen» vorgetragen – und damit die Jury regelrecht verzaubert.
Die Klagenfurt-Veteranin
Helga Schubert ist 1940 in Berlin-Kreuzberg geboren und war die bisher älteste Teilnehmerin am Ingeborg-Bachmann-Preis. Sie sollte bereits 1980 in Klagenfurt lesen, durfte damals aber nicht aus der DDR ausreisen. Von 1987 bis 1990 sass sie selbst in der Jury.
Nun startete sie einen neuen Anlauf als Teilnehmerin. Der Wettbewerb ging dieses Jahr in einer virtuellen Variante und über die Bühne. Ohne Probleme: Die sieben Jurymitglieder waren per Videokonferenz miteinander verbunden, die Autorinnen und Autoren online zugeschaltet.
Anklänge ans eigene Leben
Helga Schuberts « Vom Aufstehen » verfügt über stark autobiografische Bezüge. Er zeigt, wie die Weltgeschichte bisweilen in die Biografie einzelner eingreifen kann.
Der Text erzählt von einer betagten Frau, die sich an die Kriegsjahre, an Flucht und Vertreibung erinnert, an das Leben im geteilten Deutschland, an das beklemmte Leben im Stasi-Staat. Und er legt schonungslos frei, wie diese widrigen Umstände das Verhältnis der Frau zu ihrer Mutter vergifteten.
Der Text variiert das titelgebende Motiv des Aufstehens geschickt in verschiedener Weise: Die Figur der alten Frau liegt eines Morgens im Bett. Sie zögert das Aufstehen noch etwas hinaus und lässt ihre Gedanken in die weitere Vergangenheit schweifen.
Dankbarkeit für grausame Worte
Die Frau denkt an ihre Mutter: Sie war grausam. Sie hatte von ihrer Tochter Dankbarkeit dafür verlangt, dass sie sie nicht abtrieb, «obwohl dein Vater das wollte».
Dafür, dass sie die körperliche Anstrengung auf sich genommen habe, sie damals, in den letzten Kriegswochen, als die Rote Armee näher rückte und die Familie floh, «in einem dreirädrigen Kinderwagen» mitzuschieben - und nicht einfach dem Feind zu überlassen.
Dafür, dass sie das kleine Kind damals nicht schlicht getötet habe. Obwohl man dies von ihr «verlangt» habe, als es mit dem Nationalsozialismus zu Ende ging.
Die Metaphorik des Aufstehens
Doch da ist kein Hader bei der Protagonistin. Helga Schuberts Text schafft es sprachlich subtil und durch geschickt gesetzte Perspektivwechsel, die Trauer und Empörung über all die Grässlichkeiten in ein nachsichtiges Verzeihen zu verwandeln: in ein «Aufstehen» aus den dunkelsten seelischen Verwerfungen.
«Alles gut», lautet denn auch am Ende die kurze Formel, welche die erlittenen Schmerzen zwar nicht auslöscht. Die aber den inneren Zustand der Protagonistin glaubwürdig auf den Punkt bringt und ihr ein Weiterleben mit dem an sich Unerträglichen überhaupt erst ermöglicht hat.
Den Tränen nahe
Der Text rührte die Jury offensichtlich an: Der Stoff hätte «eine Geschichte der Katastrophe sein können», sagte die Jurorin Insa Wilke in ihrer Laudatio. Aber Helga Schubert habe «gezeigt, wie man Frieden mache», und zwar «ohne zu belehren».
Helga Schubert zeigte sich über den Preis äusserst gerührt: Ihr Text sei auch eine Hommage an die Namensgeberin des Preises, Ingeborg Bachmann, sagte sie, den Tränen nahe. Zudem hoffe sie darauf, durch den Schub des Preises bald ihren neuen Roman publizieren zu können. Ihr letzter stammt von 2003.