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Literatur Wie Chiles Sozialisten einmal fast das Internet erfunden hätten

Was wäre, wenn statt Menschen ein Computer die Wirtschaft lenkte? Der deutsche Schriftsteller Sascha Reh erinnert in seinem Roman «Gegen die Zeit» an das Chile von Salvador Allende – und an eine Vision. Ein lesenswerter Roman, basierend auf historischen Tatsachen.

Da sind mal die topografischen Gegebenheiten. Der Umstand, dass Chile 4'000 Kilometer lang, 380 Kilometer breit und ausserordentlich gebirgig ist. Dazu kommen strukturelle Wirtschaftsschwächen als Erbe der feudalen Vergangenheit. Und dann die vielen kleinen und grossen Sabotageakte; namentlich die beiden grossen Streiks, die – wie unterdessen bekannt ist – vom US-Geheimdienst CIA mitfinanziert worden sind.

Zur Person

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Legende: Frank Kurczyk

Sascha Reh wurde 1974 in Duisburg geboren und studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik. Heute lebt er in Berlin, wo er als Familientherapeut arbeitet. «Gegen die Zeit» ist Rehs dritter Roman nach «Falscher Frühling» (2007) und «Gibraltar» (2014).

Idee des Internets vorweggenommen

In den Jahren unter Allendes Unidad-popular-Regierung hat Chile ein gewaltiges wirtschaftliches Problem. Umso erfrischender ist die Idee, mit der eine Gruppe von jungen Visionären diesem Problem Anfang der 70er-Jahre entgegenzutreten versucht: eine sich dank Computertechnik selbst regulierende und optimierende Wirtschaft, basierend auf der landesweiten Vernetzung der wichtigsten Staatsbetriebe. Und das 20 Jahre vor der Erfindung des Internets.

Diese Idee wird unter dem Namen SYNCO und unter der Leitung des englischen Kybernetikers Stafford Beer weiterentwickelt und tatsächlich bis zu einem gewissen Punkt umgesetzt. Bis zu dem Tag, an dem es die Militärs, die das Projekt verächtlich «Kommunistenmaschine» nennen, wieder beenden.

Eine Vision wird zur Literatur

Sascha Reh, der sich im Rahmen seines Geschichtsstudiums mit Kybernetik beschäftigt hat – also mit der Lehre von den selbstständigen Steuerungsmechanismen biologischer, technischer oder soziologischer Systeme – greift nun die Idee wieder auf und macht sie zu Literatur.

Er macht aus Stafford Beer einen Stanley Baud, ergänzt das tatsächliche Projekt mit einer fiktiven Liebesgeschichte und fügt einen weiteren Spannungsbogen hinzu: nämlich die Konzentration auf die Frage, ob der junge deutsche Designer Hans Everding, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, am Schluss aus dem mittlerweile faschistisch regierten Chile fliehen kann oder nicht.

Ambition ohne Absturz

Buchhinweis

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Sascha Reh: Gegen die Zeit. Schöffling & Co. Verlag. 2015.

Eine Geschichte wie diese ist typisch für Sascha Reh. Er ist einer der wenigen zeitgenössischen deutschen Schriftsteller, die sich für Themen aus Wirtschaft und Technik interessieren. Schon in seinem letzten Roman «Gibraltar» befasst er sich mit der Hochfinanz und den Auswirkungen von Spekulationsgeschäften auf einen Familienkosmos.

Auch jetzt gelingt ihm die Umsetzung. Es gelingen vor allem die Passagen, in denen es um das Projekt und die politischen Ambitionen der Visionäre geht. Denn da ist die Gefahr eines Absturzes ins Geschwätzige oder Pamphlethafte am grössten.

Und wie verhält sich der Mensch?

Die stärksten Passagen sind aber jene, die sich aus der Wahl von Ort und Zeit ergeben: die dramatischen Tage rund um den 11. September 1973, als sich das Schicksal Chiles und der jungen Visionäre entscheidet. In solch extrem verdichteten Momenten wird der Blick frei aufs Wesentliche. Und das Wesentliche ist nicht ein technisch-wirtschaftliches Projekt sondern die Frage, wie sich der Mensch verhält. Macht er mit? Bleibt er loyal? Steht er zur Liebe und zum Liebsten?

Das alles schwingt mit in diesem Roman. Mehr noch: Sascha Rehs Roman über ein verrücktes technisches und wirtschaftliches Projekt ist auch ein Roman über den Verrat. Und das macht ihn so lesenswert.

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