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SRF bi de Lüt auf Spurensuche in Guarda
Aus SRF bi de Lüt – Live vom 25.01.2020.
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75 Jahre Schellen-Ursli Zugpferdchen mit Zipfelmütze

Kinder aus aller Welt hängen Schellen-Ursli an die grosse Glocke. Wie begegnet man ihm an seinem Geburtsort Guarda? Ein Augenschein.

«Eine gewisse Schellen-Ursli-Müdigkeit kennen hier alle», sagt Simon Könz. Der Enkel jener Selina Chönz, die in Guarda einst den «Schellen-Ursli» schrieb, sitzt auf einer Holzbank unter dem bilderbuchblauen Winterhimmel. Vollbart und Filzhut, Schal und Schalk schützen ihn vor einer bissigen Bise.

Im Halbtagestakt von Touristen gefragt zu werden, wo sich das Schellen-Ursli-Haus befinde? «Das ist irgendwann nicht mehr nur komisch.» Selbst dann, wenn die Unterländer direkt vor dem Haus stehen, ohne es zu bemerken.

Ein Mann mit Hut und Brille vor einer Bergkulisse.
Legende: «Schellen-Ursli» stammt aus der Feder seiner Grossmutter Selina: Simon Könz, Tonmeister. SRF / Stefan Gubser

Wer in Guarda lebe, habe zu Schellen-Ursli ein gespaltenes Verhältnis, sagt auch Thomas Lampert in seiner verrussten Werkstatt. Als junger Mann habe er, der Schmied und Verkehrsvereinspräsident, zu scherzen beliebt: «Ich will, dass ein Zürcher dereinst ‹Lamperts Qualitätsmesser› sagt, wenn man ihn fragt, was ihm zuerst zu Guarda einfalle.»

Draussen vor der Holztür

Es zieht immer noch viele Touristen wegen Schellen-Ursli nach Guarda, der 2020 seinen 75. Geburtstag feiert. Familien mit kleinen Kindern vor allem, mit einem Picknick im Rucksack und der Sehnsucht nach einem scheinbar vormodernen Idyll vergangener Zeiten.

Der Weg ist ihr Ziel: der Weg, der in zwei Stunden Stationen aus dem «Schellen-Ursli» erlebbar macht. Vorher, im Dorfzentrum, knipst man Fotos von Haus Nummer 51, das tatsächlich ziemlich genauso aussieht wie auf den berühmt gewordenen Bildern von Alois Carigiet.

Das Schellenursli-Haus in Guarda.
Legende: Ein Bijou wie aus dem Bilderbuch: das Schellen-Ursli-Haus im Dorfzentrum. KEYSTONE / CHRISTIAN BEUTLER

Das Schellen-Ursli-Haus ist in Privatbesitz. Es ist weder zu mieten noch zu besichtigen. Und das wird sich auch nicht ändern. Vielleicht ist genau das typisch für Guarda und Ausdruck der Ambivalenz, die Thomas Lampert in seiner Schmiede im Blick hatte.

Esperanto und andere Exoten

Im Schellen-Ursli-Museum, wenige Schritte dorfaufwärts, läuft ein Lied des Bündner Barden Linard Bardill in der Endlosschleife.

«Wo spricht man Esperanto, Schatz?», fragt ein Tourist vor dem Schaukasten mit den exotischen «Schellen-Ursli»-Ausgaben. Ruft eine Frauenstimme aus der Tiefe des Raumes, in dem das Maiensäss nachgebaut ist, aus der Schellen-Ursli seine Glocke holt: «Südamerika?»

Der Buchumschlag der chinesischen Ausgabe von «Schellenursli».
Legende: «Schellen-Ursli» auf Chinesisch: Exponat im Mini-Museum der Familie Meisser. SRF / Stefan Gubser

Übersetzungen in ein Dutzend Sprachen, gut zwei Millionen verkaufte Exemplare, gefühlt vier Verfilmungen: «Schellen-Ursli» ist auch 75 Jahre nach Erscheinen ein helvetischer Kinderbuch-Exportschlager, den nur das «Heidi» und der «Regenbogenfisch» schlagen.

Aushängeschild mit Einschränkungen

«Schellen-Ursli ist Guardas Maskottchen», sagen Benno und Maya Meisser, die letzten Hoteliers im Dorf. Das Museum war ihre Antwort auf den Kinofilm, der Guarda vor ein paar Jahren auf die geistige Landkarte vieler Schweizerinnen und Schweizer brachte, obwohl man unten im Tal drehte. Drüben in Sur En.

Die Meissers würden Schellen-Ursli gern stärker als Botschafter für das Dorf eingebunden wissen. Aber das ist nicht einfach – und kann ins Geld gehen: Die Verwendungsrechte für Wort und Bild des «Schellen-Ursli» gehören seit Jahren dem Orell-Füssli-Verlag.

Ein Wegweiser, auf dem der Schellenursli abgebildet ist.
Legende: Die Richtung stimmt: Schellen-Ursli als Wegweiser – auch für Nichtleser. SRF / Stefan Gubser

Komplizierte Geschichte. Wenn es allerdings um Bedürfnisse im Dorf gehe, versuche er stets, Dinge einfach zu halten und möglich zu machen, sagt Chönz-Erbe Simon: «Der Schellen-Ursli ist hier zuhause.»

An der Schmerzgrenze

Zu viel, zu wenig Schellen-Ursli: Wo verläuft die Schmerzgrenze? Teller, Tassen und anderen stilvollen Ursli-Tand gibt es in der kleinen Boutique am Dorfeingang.

«Wir brauchen keine aufblasbare Schellen-Ursli-Figur, weder Kebab-Stand noch Pizza-Beiz», sagt Verena Jordan, eine Keramikerin, die es vor 35 Jahren von Zürich nach Guarda zog. «Aber ein bisschen mehr für Touristen mit wenig Geld könnten wir schon tun.»

Andererseits: Keiner der 180 Einwohner will carweise Leute im Dorf haben, das auch von der Ruhe lebt, die rüstige Rentner mit farbiger Funktionsjacke und dem nötigen Kleingeld suchen. Ein Disneyland für den Bergbuben mit der Zipfelmütze und Nagelschuhen? Nein, danke.

Ein Mann, der ein blaues Hemd trägt, steht in einer Werkstatt.
Legende: Messerschmied mit Moralvorstellungen: Thomas Lampert, Guardas Verkehrsvereinspräsident. SRF / Stefan Gubser

Eine Frage der Moral

Andere Frage: Ist die Geschichte des Schellen-Ursli, den die Dorfjugend hänselt, weil er für den Chalandamarz nur ein kleines Glöckchen erhält, nicht auch die Mutprobe eines Mobbingopfers? Bläut das Bilderbuch den Kindern nicht etwas gar früh ein: Sei bloss nie der Kleinste! Riskiere zur Not dein Leben, um ganz vorne zu stehen, wenn die Musik spielt!

Im gediegenen Hotel Meisser stört man sich nicht an der Botschaft des Botschafters. «Jeder will der Beste sein», sagt Benno Meisser. «Das liegt in der Natur des Menschen.»

Schmied Thomas Lampert stösst sich an der möglicherweise sehr zeitgemässen, aber merkwürdigen Moral von der Schellen-Ursli-Geschicht'. Sie sei, schmunzelt er, mit ein Grund für das gespaltene Verhältnis, das man in Guarda zu seinem berühmten Bürger habe.

Simon Könz, der im Sommer mit Frau und drei Kindern aus Zürich in das Dorf seiner Vorfahren väterlicherseits zurückgezogen ist, sieht es entspannter. Für ihn erzählt die Geschichte seiner Grossmutter von der Kraft der Vision, die man im Leben brauche, wenn man etwas erreichen wolle.

Haue statt Happy End

Das habe auch seine Grossmutter ausgezeichnet. Ohne eine Vision, sagt Könz, hätte sie nicht den Grafiker Alois Carigiet dafür gewinnen können, das Kinderbuch einer damals namenlosen Autorin zu illustrieren.

Kennt man die Familiengeschichte, kriegt die Schellen-Ursli-Ambivalenz noch eine andere, dunklere Farbe. Schon Simon Könz verschweigt ja nicht, dass seine Grossmutter eine strenge, schwierige Frau gewesen sei.

Legendär ist die Anekdote, ihr Sohn, der spätere Fotograf und Künstler Steivan Liun Könz, habe als Sechsjähriger für den «Schellen-Ursli» einen neuen, für ihn stimmigeren Schluss erfunden. Statt eines Happy Ends habe man in seiner Version dem Schellen-Ursli den Hintern versohlt.

Schellen-Urslis Schatten

Der Bäuerin Ilda Ritz-Brunold, deren Mann Jon als Vorbild für den Schellen-Ursli gilt, hat an der Geschichte ihrer früheren Nachbarin Selina Chönz immer missfallen, dass sie Kindern den Trotz schmackhaft mache. «Dabei müssen sie doch lernen, sich einzufügen.»

Und dann gebe es andere wunderbare Geschichten aus Guarda, über die kein Mensch mehr spreche, weil dieser Schellen-Ursli alles und alle überstrahle. «Oder kennen Sie die wunderbare Erzählung ‹Die Wachholderbeere›?»

Schellenursli-Abbildungen an einer Holzwand.
Legende: Sie hängen ihn hoch, aber mit Mass: Guardas Aushängeschild an einer Hauswand. SRF / Stefan Gubser

Der kleine Unterschied

Worauf sie in Guarda bei aller Gespaltenheit eindeutig viel Wert legen: Der Schellen-Ursli ist ein Gewinn und Garant dafür, dass nicht nur Architektur-Aficionados eine Nacht in dem intakten Engadinerdorf verbringen.

Noch wichtiger aber scheint ihnen dieser Nachsatz: Wenn die Kinder am Tag des Chalandamarz in Guarda dem Winter den Garaus machen, geht nicht das Kind voran, das sich, wie und warum auch immer, die grösste Glocke ergattert hat. Das Kind mit der grössten Glocke – das ist immer einfach das älteste.

Das war vor 75 Jahren nicht anders.

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