Es grenzt an ein Wunder, dass wir Leonid Zypkin heute kennen. Der 1926 in Minsk geborene und 1982 in Moskau verstorbene Autor durfte im Sowjetstaat zeit seines Lebens keine einzige Zeile seines faszinierenden literarischen Werks veröffentlichen. Zu wenig entsprach es den ästhetischen und politischen Vorgaben des Regimes.
Zypkin schrieb seine Werke für die Schublade: darunter die romanhafte Biographie «Ein Sommer in Baden-Baden» über den exzentrischen Dichter Fjodor Dostojevskij oder das autobiografische Buch «Die Brücke über den Fluss». Es ist vor Kurzem auf Deutsch erschienen.
Die Hymne der Susan Sontag
Zypkins Entdeckung erfolgte erst nach dessen Tod. Und gleicht einem Märchen: Es ist Anfang der 1990er-Jahre, als eine kaum beachtete englische Übersetzung von «Ein Sommer in Baden-Baden» in die Hände der US-amerikanischen Autorin Susan Sontag gerät. Die Lektüre elektrisiert sie.
2001 veröffentlicht sie in der Kulturzeitschrift «New Yorker» einen geradezu hymnischen Essay: Der Roman gehöre «zu den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts».
Plötzlich im Rampenlicht
Das sitzt. Internationale Verlage werden aufmerksam. Übersetzungen in über 20 Sprachen. In den Feuilletons jagen sich die positiven Rezensionen.
Leonid Zypkins Literatur sei einzigartig, sagt Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. «Zypkins Satzbau ist enorm elaboriert, entwickelt einen ganz eigenen Ton und wirkt geradezu psychedelisch.»
Russische Kulturgeschichte als Ganzes
Das rund 250 Seiten dicke Werk «Ein Sommer in Baden-Baden» ist ein scheinbar pausenloser Gedankenstrom. Nur wenige Sätze, endlos lang.
Scheinbar wild assoziierend dringt das Bewusstsein zu immer neuen Räumen vor: zu Dostojewski, zu dessen Epoche des 19. Jahrhunderts, zu Revolution und Stalinismus, zum bedrohlichen Sowjetalltag der 1970er-Jahre. «Zypkins Werk sucht nach einem Gesamtbild der russischen Kulturgeschichte», sagt Ulrich Schmid.
Autobiographischer Gedankenstrom
Dasselbe Verfahren wandte Zypkin im autobiographischen Text «Die Brücke über den Fluss» an. Er erzählt von seiner Familie. Vom Leiden des Vaters im Stalinismus. Vom Überfall der Nazis. Von der Flucht.
Leonid Zypkin sei ein «Schwerarbeiter» gewesen, erinnert sich dessen Sohn Mikhail Zypkin. Der heute 70-Jährige emigrierte 1977 in die USA und lebt in Kalifornien.
Tagsüber habe sein Vater als Arzt gearbeitet, nachts und an den Wochenenden geschrieben. «Mein Vater war innerlich immer beschäftigt.»
Die letzte Karte
Doch aus dem Lebenstraum, der Publikation, wird nichts. Ende der 1970er-Jahre stellt Leonid Zypkin mehrere Ausreiseanträge. Vergeblich. Zypkin greift zum letzten Mittel, das ihm noch bleibt: die Publikation im Ausland.
Ein befreundeter Journalist schmuggelt das Manuskript von «Ein Sommer in Baden-Baden» ausser Land. 1982 druckt es eine New Yorker Emigrantenzeitschrift, ohne von der Leserschaft allerdings gross beachtet zu werden.
Kleine Erfüllung eines grossen Traums
In Moskau erfolgt die Reaktion des Regimes indessen prompt: Leonid Zypkin verliert seine Stelle als Arzt. Einige Tage später, am 20. März 1982, stirbt er – an seinem 50. Geburtstag.
Sohn Michail Zypkin erfährt davon im Exil in den USA: «Der Stress von Publikation und Jobverlust wurde für meinen Vater zu gross.» Immerhin habe er die Erfüllung seines grössten Traums noch erlebt: «Er war ein publizierter Autor – wenigstens für eine Woche.»
Den wahren Durchbruch Jahrzehnte später erlebt Leonid Zypkin nicht mehr.