November 2010: Ein junger, noch unbekannter Rapper veröffentlicht ein Lied mit Zündstoff – einen Monat bevor in Tunesien der arabische Frühling ins Rollen kommt.
Herr Präsident, dein Volk stirbt, viele Leute essen aus Mülltonnen. Da siehst du, was sich im Land tut. Elend überall und die Leute wissen nicht, wo sie schlafen sollen.
El General heisst er und stellt das Musikvideo auf Facebook. Andere Möglichkeiten hat er nicht. Musiklabel, Radio oder Fernsehen: ausgeschlossen. Internetseiten wie YouTube: immer mal wieder gesperrt. Und seine direkte Kritik an Tunesiens Langzeitpräsident Ben Ali: eigentlich ein Unding.
Rap aus dem Untergrund
Die meisten tunesischen Rapper seien dazumal entweder ins Exil gegangen oder anonym geblieben, sagt die Filmemacherin Hind Meddeb, die mehrere Filme über die Rapszene in Tunesien gedreht hat: «Es gab zu Zeiten Ben Alis eine Rap-Undergroundszene, die aber total versteckt war. Die Leute kannten die Lieder, man wusste nur meist nicht, wer sie gerappt hatte.»
El Generals Lied «Rais Lebled» zieht bald enorme Kreise, wie sich Sarah Mersch erinnert, die damals bereits in Tunis als Journalistin arbeitete. «Er hat das ausgedrückt, was viele, gerade junge Tunesierinnen und Tunesier gefühlt haben. Manche haben sich auch gedacht, ui, ob das gut geht und der nicht bald im Gefängnis landet.»
Stimme der Proteste
Anfang Januar 2011 landet El General tatsächlich für ein paar Tage im Gefängnis, doch da ist die Revolution schon in vollem Gang. Die Strassenproteste fegen Präsident Ben Ali überraschend schnell aus dem Amt und El General wird als Stimme der Revolution gefeiert. Das Time Magazin setzt ihn später auf die Liste der einflussreichsten Personen 2011.
In der tunesischen Rapszene sehen das nicht alle so. El General sei ein Unfall gewesen, so formuliert es der Musikjournalist Thameur Mekki. Sein Erfolg hatte viel mit Glück und Timing zu tun und blieb ein kurzfristiger.
10 Jahre später
Euphorie und danach viel Ernüchterung – so lässt sich auch die Entwicklung der Stimmung im Land beschreiben. Zehn Jahre nach der Revolution sind viele Tunesier enttäuscht darüber, dass sich ihre Lebensumstände nicht verbessert haben. Aber zumindest eine Gewinnerin haben die Umbrüche hervorgebracht: die Meinungsfreiheit.
«Die Tatsache, dass man heute in einem Café öffentlich über Politik reden kann, ist eine grosse Errungenschaft, die man nicht unterschätzen sollte und die sich die Bevölkerung auch nicht mehr so schnell wieder nehmen lassen wird», beobachtet Journalistin Mersch.
Musik ohne Zensur
Davon profitieren auch die Rapper: Sie können heute viel freier arbeiten. Rapper wie Weld El 15 oder Klay BBJ wurden zwar auch in den Jahren nach der Revolution ab und an inhaftiert – meist wegen Cannabiskonsum. Doch eine systematische Verfolgung und Zensur gibt es nicht mehr.
«Tunesien ist, verglichen mit Ägypten, Marokko oder Algerien, das beste Land für Künstler», sagt auch Filmemacherin Meddeb. In Ägypten etwa geht die Organisation « Human Rights Watch » von 60’000 politischen Gefangenen aus, unter ihnen etliche Musiker und Künstler.
Ego-Trip statt Systemkritik
In Tunesien haben nicht zuletzt die neuen Freiheiten die Rapszene massgeblich verändert. Sie ist heute kommerzialisierter, sagt der Musikjournalist Thameur Mekki. Der Rap sei mehr auf Showbusiness ausgerichtet, mehr Mainstream. Die Protestrapper seien in der Minderheit.
«Es ist nach wie vor schwierig, mit Rapmusik Geld zu verdienen. Der Zugang zu digitalen Streamingplattformen wie Spotify oder iTunes ist in Tunesien nur schon aus Devisengründen stark erschwert und Musikpiraterie ist weit verbreitet.» Trotzdem gebe es heute eine Öffentlichkeit für Rapper, sagt Mekki.
Es habe aber auch eine Entpolitisierung des Raps stattgefunden. Vor allem das Subgenre Trap sei beliebt, meist in tunesischem Arabisch gesungen und inhaltlich an international verbreitetem Hiphop orientiert. Die Musiktexte setzen auf, was Mekki «Ego-Trip» nennt: Es geht um den Rapper selbst, seine Qualitäten, seine «street credibility».
«Es köchelt wieder»
2011 haben Rapper den Soundtrack zur Revolution geliefert, aus dem Untergrund und deshalb ohne die ganz grosse Breitenwirkung. Heute, sagt Mekki, gehöre das Musikgenre wohl zum meistgehörten in Tunesien. «Ich denke, Rap wird immer einflussreicher. Aber wird dieser Einfluss auch genutzt, um gesellschaftliche oder sogar politische Veränderungen zu begleiten?», fragt der Musikjournalist und fügt sogleich an: «Ich glaube nicht.»
Dabei gäbe es genügend Anlass für politischen Rap. Die Arbeitslosigkeit in Tunesien ist hoch, die Korruption grassiert, die Polizei ist omnipräsent und macht der Bevölkerung noch immer das Leben schwer.
«Es köchelt wieder», sagt denn auch Journalistin Mersch und verweist auf die vermehrten Proteste der letzten Monate. Verwunderlich wäre es also nicht, wenn der tunesische Underground-Rap, in den Hinterzimmern der Arbeiterviertel gemixt, wieder Auftrieb erhält.