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10 Jahre Spotify Wie Spotify und Co. die Popmusik saniert haben

Auf Spotify entscheidet ein Algorithmus, welche Songs gehört werden. Das verändert auch die Musik selbst.

Synthetische Bässe geben den Ton an. Das Intro? Dauert meist nur wenige Sekunden. Dann setzen die Lyrics ein – oft bereits direkt mit dem Refrain, der bestenfalls Ohrwurmpotenzial hat. Nach gut drei Minuten ist Schluss. So hört sich die Popmusik der Gegenwart an. «Schuld» daran: Spotify.

Seit zehn Jahren steht der Musikstreaming-Dienst auch in der Schweiz zur Verfügung – und hat fast unbemerkt die Popmusik saniert. Die Art und Weise wie wir Musik konsumieren, wirkt sich unweigerlich auf die Musik selbst aus.

Wenn Musiker und Musikerinnen heutzutage Erfolg haben möchten, müssen sie in beliebten Spotify-Playlists landen. Diese werden in erster Linie von Algorithmen kuratiert. Und das hinterlässt Spuren.

Wie funktioniert der Spotify-Algorithmus?

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Das Ziel des Algorithmus ist es, unseren Musikgeschmack möglichst präzise vorhersagen zu können. Hierfür erstellt er für Nutzer und Nutzerinnen ein «Taste-Profil». Der Algorithmus analysiert verschiedene Parameter wie u. a. unsere Musikvorlieben, Abspielraten, Hördauer, wann und wo welche Musik gespielt wird oder welches Musikgenre wir gerne hören.


Diese Daten werden im «Taste-Profil» eines Nutzers zusammengefasst und mit den Profilen anderer Abonnentinnen verglichen. Bei häufigen Überschneidungen der Datenmenge, bspw. wenn ein Song von ganz vielen Usern und Userinnen immer bis zum Schluss gehört wird, wird das Lied wahrscheinlich in der beliebten «Discover Weekly»-Playlist angezeigt.


Zudem durchleuchtet der Algorithmus das gesamte Internet nach Anhaltspunkten, um einen Song einschätzen zu können. Je positiver ein Track bspw. in Kommentaren auf Social Media ankommt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Lied auf Spotify vorgeschlagen wird.

Beispielloser Erfolg von Capital Bra

Einer, der das Musikbusiness des 21. Jahrhunderts durch und durch verstanden hat, ist der deutsch-ukrainischer Rapper und Sänger Capital Bra. 2020 war er der meist-gestreamte Künstler in der Schweiz. Das ist kein Zufall. Denn Capital Bras Musik ist passgenau auf die Anforderungen des Musikstreamings zugeschnitten.

Ein Mann mit Kappe und Lederjacke steht vor Publikum.
Legende: Capital Bra mit seiner berühmten «Gucci-Cap» bei einem Auftritt 2019 in Berlin. IMAGO / Jan Huebner

Lange Intros haben ausgedient. Die ersten Takte müssen sofort knallen. Denn der Daumen ist schnell: Gefällt ein Song nicht innerhalb weniger Sekunden, so wird er weggewischt. Wird ein Lied weniger als 30 Sekunden abgespielt, zählt das nicht als Stream und der Künstler verdient keinen Cent. Ausschaltimpulse sind also ein absolutes No-Go im Musikstreaming-Zeitalter.

Der perfekte Song?

In Capital Bras erfolgreichstem Song auf Spotify «110» beginnt der Songtext nach nur 10 Sekunden – und zwar direkt mit dem Refrain. Dieser wird in den 3 Minuten und 15 Sekunden des Liedes satte viermal gespielt. Eine wiederkehrende Struktur in einer Musik, die immer kürzer und kompakter wird.

Musikschaffende ziehen lieber den Kürzeren

Das US-Nachrichtenportal Quartz hat ausgerechnet, dass der durchschnittliche Song in den «Billboard Hot 100»-Charts seit 2013 um 20 Sekunden kürzer geworden ist. Das hat einen Grund: Wird ein Lied oft in Gänze gehört, so rankt der Spotify-Algorithmus das Lied besser und schlägt es vermehrt auch anderen Hörern und Hörerinnen vor.

Bei kürzeren Liedern ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bis zum Schluss gehört werden, höher als bei langen Kompositionen. Capitals beliebteste Lieder auf Spotify überschreiten selten die Drei-Minuten-Marke.

TikTok: Auch da spielt die Musik

Auch das Soziale Netzwerk TikTok mischt im Musikbusiness mit. Auf der Plattform werden Lieder zu sogenannten Tanzchallenges. Songschnipsel werden für humorvolle Sketches verwendet. Knackige Soundmuster, die die User und Userinnen zum Interagieren und Experimentieren einladen, können auf der App zum viralen Hit werden.

Prägnante Textzeilen, die sich visuell gut umsetzen lassen, versprechen Erfolg auf der Plattform. Neben Spotify wird auch TikTok bei der Produktion eines Popsongs oft mitgedacht.

Das Medium macht die Musik

Neue technologische Errungenschaften bestimmen den kommerziellen Erfolg von Liedern und damit auch die Art und Weise, wie sie sich in ihrer Struktur verändern. Doch das ist kein neues Phänomen.

Früher haben die Grenzen der Hardware unseren Musikgenuss beeinflusst: Die ersten Schallplatten hatten eine so geringe Speicherkapazität, sodass Lieder sehr kurz sein mussten.

Das modernere Vinyl ermöglichte längeren Hörgenuss und die CD etablierte die klassische Alben-Struktur mit mehreren Songs am Stück, da «das Wechseln der Seite» entfiel.

Im Radio wurden «Fade-Outs» am Ende eines Popsongs populär und die Einführung mobiler Abspielgeräte sorgte dafür, dass Musik fortan auch unterwegs gehört werden konnte. Heute verändern eben Spotify und TikTok die Welt der Popmusik.

SRF 1, Tagesschau, 15.11.2021, 19:30 Uh

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