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100 Jahre György Ligeti Ligetis Musik löst Grenzen auf – und fesselt

Mit seinen weltbekannten Kompositionen traf György Ligeti den Nerv unserer Zeit, oft schon lange vorher. Mit «Atmosphères» nahm er uns mit auf Weltraumreise, die Oper «Le Grand macabre» führte uns fast zum Weltuntergang. Ein Blick auf den Kosmos Ligeti zu seinem Hundertjährigen.

Meine erste Begegnung mit György Ligeti habe ich mit vielen geteilt. Mit sehr vielen. Nämlich mit dem Kinopublikum, das zu Musik von György Ligeti einen wahrhaften Spacetrip erlebte. In Stanley Kubricks «2001 – A Space Odyssey». Regisseur und Produzent Kubrick, der grosse Musikfan, hat ganze Sequenzen an Ligetis Musik angepasst.

Und so schlitterten wir zu den Klängen von Ligetis Orchesterstück «Atmosphères» durch das Weltall. Haltlos, erschrocken und zugleich fasziniert. Weniger die Bilder waren es, leicht erkennbare Vulkanberge und Kraterlandschaften, die Kubrick eingefärbt hatte. Es war die Musik, die in dieser fast zehnminütigen Szene faszinierte.

Musik ohne Anfang und Ende

Mit der Musik hob der Film vollends in eine andere Sphäre ab. Genau das wollte Ligeti 1961 mit «Atmosphères» auch erreichen. «Intervallik und Rhythmik sollten völlig aufgelöst werden, um Platz zu machen für die Komposition von feingewobenen musikalischen Netzgebilden», sagte Ligeti bereits Ende der 1950er-Jahre zum Kompositionsprinzip.

Es entstehen ineinander verschobene Klangflächen, anstatt klar voneinander abgegrenzte Motive. Musik, die scheinbar vor ihrem Anfang begonnen hat und nach ihrem Ende weiterzuklingen scheint. Musik, in der man sich verliert.

Schillernde Klangwelten statt Mitwipp-Rhythmen

Mit «Atmosphères» hatte Ligeti den frühen Minimalisten aus den USA viel Raffinement entgegengesetzt. Sind deren Stücke aus maximal reduziertem Klangmaterial, so schillern Ligetis Klangstratosphären in den buntesten Farben. Dabei wirken sie aber keinesfalls übersättigt, im Gegenteil: Raffinement und scheinbare Simplizität.

Ligetis Musik ist äusserst zugänglich. Auch wenn der Komponist selbst einmal sagte, das Publikum höre nach seiner Erfahrung in der Regel bei nicht tonaler Musik auf, richtig zuzuhören. Damit meinte er, dass wir fassbare Melodien und Mitwipp-Rhythmen brauchen.

Das mag etwas verbittert klingen, ist aber keineswegs gerechtfertigt. Ligeti wird, gerade in seiner Wahlheimat Deutschland, viel und regelmässig aufgeführt. Dazu trägt sicher auch sein umfangreicher Werkkatalog bei, der von kurzen Klavierstücken bis zur vollständigen Oper alles abdeckt.

Fern von Grenzen und dem System

Die Auflösung von Strukturen verfolgte Ligeti auch in anderen Werken. «Continuum» etwa, ein rasend schnelles Cembalostück, täuscht seine Hörer mit Noten. Man hört etwas, das gar nicht geschrieben steht. Aufgelöst ist auch die Grenze zwischen Text und Klang in «Aventures». Die Sänger darin artikulieren Laute, die zwischen beidem anzusiedeln sind. Ein äusserst vergnügliches Hörabenteuer.

älterer Mann mit weissem Haar und getönter Brille, hält schwarzes Notizbuch vor den Mund, wirkt nachdenklich.
Legende: Sein erstes Streichquartett schrieb Ligeti 1953 in seiner Heimat Ungarn für die Schublade. Es wurde erst 1958 nach seiner Emigration in Wien uraufgeführt. Erich Auerbach / Hulton Archive / Getty Images

Ligeti, dem jegliche Systemgläubigkeit fern lag, geht hier in die völlige Freiheit des Absurden hinein. So auch in seiner vor nicht allzu langer Zeit in Zürich aufgeführten Oper «Le Grand macabre». Darin geht es um einen Weltuntergang, der gar nicht wirklich stattfindet.

Ohne es herauszuposaunen, hat Ligeti vielfach den Nerv unserer Zeit getroffen. Mit seiner Oper, die geradezu symptomatisch für unsere Gegenwart zutrifft. Oder mit seinen Atmosphères, die uns in den Kinosesseln an den Rand der Auflösung brachte.

SRF 1, Sternstunde Musik, 28.05.2023, 12:00 Uhr.

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