Zum Inhalt springen

Header

Audio
Festival Aix-en-Provence
Aus Kultur-Aktualität vom 10.07.2023. Bild: Tristram Kenton
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 7 Sekunden.
Inhalt

75. Festival d'Aix-en-Provence Wenn Opernsänger genüsslich «Schwuchtel» sagen

Die Jubiläumsausgabe des bedeutenden Opernfestivals in Aix ist queerer und diverser denn je. Eindrücke von einem Ausnahme-Event.

«It’s been a long time, and we are still not free», heisst es zu Beginn des experimentellen Musiktheaters des Komponisten Philip Venables und seines Regiepartners Ted Huffman. Es ist eine der sechs grossen Produktionen im Eröffnungsreigen des diesjährigen Festivals in Aix-en-Provence.

Kit Green, non-binäre Performer-Person, führt auf der Bühne des Pavillon Noir durch das abwechslungsreiche Stück. Der markige Titel: «The Faggots and Their Friends Between Revolutions», zu Deutsch: «Die Schwuchteln und ihre Freunde zwischen Revolutionen».

Eine schlanke Person mit langem Haar und rotem langen Kleid steht auf einer Bühne und hält einen Stuhl in der Hand.
Legende: Kit Green führt durch den Abend in Aix und reisst das Publikum von den Stühlen. Tristram Kenton

Es ist die Vertonung des gleichnamigen queeren Kulturbuches von Larry Mitchell, das schon 1977 mit lakonischer Sprache die Gesellschaft aus queerer Perspektive erklärte.

Techno trifft auf Countertenor

Das Buch benennt neben sexueller Selbstbestimmung auch soziale Ungleichheiten, das Doppelleben vieler queerer Menschen sowie deren Diskriminierung. Auch deshalb das oft abwertend verwendete Wort «Faggots» im Titel und dessen ironische Brechung im Stück.

Venables, er wurde für seine aufwühlenden Werke bereits mehrfach ausgezeichnet, bringt nun Ausschnitte des Buches auf die Bühne, ergänzt um Partien der neueren LGBTQIA-Geschichte. Musikalisch ist es eine temporeiche Collage: Techno-Beats und frühbarocker Countertenor-Gesang können unmittelbar aufeinander folgen.

Eine Person tanzt im Vordergrund, dahinter ein Dutzend verschiedenen Menschen, die musizieren, tanzen und zuschauen.
Legende: Verbiegen muss sich niemand in Philip Venables' Inszenierung von «The Faggots and Their Friends Between Revolutions». Tristram Kenton

Das äusserst diverse Ensemble besteht aus 15 Musizierenden, die singen, improvisieren, sprechen, tanzen, energisch performen und die Bühne mit Instrumenten und Stühlen selbst umgestalten.

Genauso vielfältig sind die Kostüme: Fussballerinnen-Outfit, einfacher Alltags-Look, Plissée-Jupe oder Bondage-Harness: Alles ist möglich. Die musikalische Gesamtleitung hat die britische Dirigentin Yshani Perinpanayagam, die meist stehend an einem der Tasteninstrumente das Ensemble zusammenhält.

Gepflegter Gossensprech

Reizvoll ist, dass die teils sehr explizite Sprache mit Ausdrücken wie «faggots», «fuck» oder «tasty orgasm juice» auch genüsslich und im gepflegtestem Operngesang dargeboten wird.

Ein Höhepunkt ist der Moment, in dem Kit Green zum Mitsingen auffordert: «Helfen Sie, die Männer (also: das Patriarchat) zu verspotten» – was das Publikum auch lustvoll tut.

Weitere Highlights in Aix-en-Provence 2023

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: Getty Images / INA / Claude James

«Die Dreigroschenoper» – Auftakt mit Ansage

Auch die Entscheidung des Intendanten Pierre Audi, mit der «Dreigroschenoper» von Kurt Weill und Bertolt Brecht das Jubiläumsfestival zu eröffnen, war kühn.

Er setzte dem vornehmen Publikum auf den teuren Premierenplätzen damit im Innenhof des erzbischöflichen Palastes eine Opern-Satire über soziale Ungleichheit vor. Noch dazu in einer neuen französischen Fassung, einer aktualisierenden Inszenierung, und – anstatt mit internationalen Opernstars – mit dem beredten Ensemble der Comédie-Française.

Das war mehr als nur ein dezenter Hinweis ans Publikum, die weniger Zahlungskräftigen der Gesellschaft nicht zu vergessen.

«Picture a day like this» – Fabel über das Glück

Mit der Uraufführung der neuen Oper des Ernst-von-Siemens-Musikpreisträgers George Benjamin stand Aix erneut im Fokus der internationalen Feuilletons.

«Wozzeck» – Düster hoch drei

Alban Bergs Meisterwerk ist am Festival die herausragende Neuproduktion einer Repertoire-Oper.

Simon Rattle leitet detailreich und klangsensibel das London Symphony Orchestra, Malin Byström und Christian Gerhaher sind Idealbesetzungen für die Hauptprollen, und der Bühnenmagier Simon McBurney bebildert das Stück stimmungsvoll und düster.

«Così fan tutte» – Mozart mit Massenmord

Für die obligate Mozart-Oper stand Thomas Hengelbrock am Pult seines Originalklangensembles «Balthasar-Neumann».

Seine ansprechende Interpretation gelang zwar bei der Premiere koordinativ noch nicht vollkommen, aber dennoch machte sie die vollkommen verunglückte szenische Umsetzung von Dmitri Tcherniakov wett – den «Tolggen» im diesjährigen Reinheft.

Seine eigentlich interessante Deutung der Handlung als Paartherapie vermochte der Regisseur schliesslich nur noch aufzulösen, indem er auf der Bühne einen Massenmord inszenierte.

«Ballets russes» – Faszinierend filmreif

In der wunderbar rohen Aussenspielstätte des verlassenen Stadium de Vitrolles dirigierte der Jungstar Klaus Mäkelä sein Orchestre de Paris in drei Ballettmusiken von Igor Strawinsky.

Dazu wurde nicht szenisch auf einer Bühne inszeniert, sondern filmisch – in drei ganz unterschiedlichen Kurzfilmen von zwei Regisseurinnen und einem Regisseur.

Der Liedtext entstammt ebenfalls der Buchvorlage und wird Zeile für Zeile gemeinsam einstudiert. Er dreht sich darum, welcher Teil der Gesellschaft Zugang («the key») zu allen Möglichkeiten hat und diesen verwaltet. Zum Schluss dieser Einlage halten die Zuschauenden unter Jubel ihre Schlüssel in die Luft.

Die so bunte wie eindringliche Produktion führt vor Augen, dass auch fast 50 Jahre nach der Veröffentlichung des Buches – und trotz vieler rechtlicher Errungenschaften – queere Menschen vielerorts immer noch nicht frei sind, und dass Angriffe, insbesondere gegenüber trans und non-binären Menschen, gar zunehmen.

Mehr Zeitgeist geht nicht

Auch indem er dieses Stück prominent aufs Programm setzte, zeigt Intendant Pierre Audi sein Gespür für zeitgemässe Themen. Diversität ist schon länger selbstverständlich in den Festivalprogrammen von Aix, höchstes musikalisches Niveau sowieso.

In Sachen Experimentierfreude, Überraschung und Innovation hat dieses Festival nun die Nase klar vorn unter den grossen Opernfestivals, auch vor der Musiksparte der altehrwürdigen Salzburger Festspiele.

Veranstaltungshinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Das 75. Festival d'Aix-en-Provence findet vom 4. bis 24. Juli 2023 statt.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 10.7.2023, 8:05 Uhr

Meistgelesene Artikel