Mario Venzago kommt 2010 mit einer Vision in die Bundesstadt: Das Berner Symphonieorchester (BSO) soll ein selbstbewusstes Orchester werden und eines der besten des Landes. Mit einem neuen französischen Repertoire und leichtfüssigen Interpretationen spielt sich das BSO unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten schnell in die Herzen des Publikums.
Doch nicht alle seine Ziele habe er in diesen zehn Jahren erreicht, resümiert der Dirigent: «Das mit dem Selbstbewusstsein konnte ich nicht verändern.» Durch die Pandemie, den Umbau der Strukturen und des Casino Bern hätten weniger Tourneen stattfinden und weniger CD-Projekte realisiert werden können, als er wollte. «Das sind Tätigkeiten, die das Selbstbewusstsein gestärkt hätten.»
Ein eigenwilliger Dirigent
Venzago selbst hatte das offenbar nicht nötig. Unermüdlich setzt er sich für ein unbekanntes Repertoire ein, wagt Experimente. So auch beim Konzert mit dem Berner Mundart-Popduo Lo & Leduc. Seine Partituren fasst er bisweilen hart an. Er verändert, schreibt Stücke fertig. Die «Unvollendete» von Franz Schubert zum Beispiel.
Und auch mit «seinem» Bruckner erregt er Aufsehen. «Natürlich ist es vermessen zu sagen ‹mein› Bruckner – aber so meine ich es», sagt Venzago schmunzelnd. Im Vergleich zu anderen Aufnahmen der Bruckner-Sinfonien sind Venzagos Interpretationen ganz anders.
Venzago orientiert sich im Tempo an der Klassik und Schubert, die Blechbläser «singen» die Choräle in Bruckners Sinfonien. Darum klingen sie auch wie ein Männerchor. «Dieser gepanzerte Koloss, den wir oft bei Bruckner interpretieren – das hat mich nicht interessiert. Und plötzlich sind die Sinfonien kürzer, sie sind leiser und auch freier.»
Mit seinen Verbesserungen fertiger Partituren, aber auch mit seiner eigenwilligen, bisweilen divenhaften Art eckte Venzago auch an. Das gefiel nicht jedem Musikfan, auch nicht allen Kritiker:innen. Doch der Mann mit dem roten Schal zog sein Ding durch. Meistens jedenfalls.
Geborener Entertainer
«Ich habe oft Streit angefangen, ich habe aber auch unglaublich viel gelacht. Jede Probe, in der nicht mindestens zweimal zwerchfellerweichend gelacht wird, ist eine verlorene Probe», so der Dirigent. Sein Credo: «Führen und verführen.»
Der quirlige Maestro war der geborene Entertainer, einer, der begeistern konnte. Doch jetzt, nach zehn Jahren, sei es Zeit für einen Wechsel in Bern. Eine Chefdirigentenstelle bekomme man nur auf Zeit geliehen. «Man hat, vor allem so wie ich meinen Vertrag ausgehandelt hatte, sehr viel Macht. Und diese Macht muss begrenzt sein.»
Besonderes Abschiedsgeschenk
Zum Abschied schenkt Venzago der Stadt sein neues Violinkonzert. Ein autobiografisches Stück: Jeder Satz verarbeitet eine wichtige Station im Leben des Dirigenten. Der letzte Satz heisst: «Adieu, du schöne Stadt am Fluss».
Bern sei eine farbige Stadt, sagt Venzago. «Der Satz beginnt mit einem Walzer, es geht über in Erinnerungen an Bach – das bezieht sich auf Bern und die Tradition. Er hört mit einem Zitat auf, in dem es darum geht, dass der Abschied immer ein wenig wehtut.»
Mario Venzago bleibt dem Berner Sinfonieorchester als Ehrendirigent erhalten. Nach seinem Abschied hätte in Asien das nächste Abenteuer auf ihn gewartet. Doch die Corona-Pandemie machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
«Es ist wirklich alles offen. Das hatte ich noch nie in meinem Leben», so der Dirigent. Und doch ist eines sicher: Einem Mario Venzago fällt garantiert etwas ein.