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Musik Bewahren und erneuern: Alevitische Klänge aus Anatolien

Die Brüder Kemal und Metin Kahraman dokumentieren die Klänge ihrer türkischen Heimat Dersim. Dort hat die alevitische Minderheit eine eigene Musiksprache gefunden. Ihre Arbeit gibt Einblick in eine jahrhundertealte Kultur und ihre einzigartigen Klänge.

In den 90er-Jahren schliessen sich Kemal und Metin Kahraman in der Türkei der linken Studentenbewegung an. Im Zuge des damals neu aufflammenden Kurdenkonflikts besinnen sich die beiden engagierten Brüder auf ihre eigenen Wurzeln. Ihnen wird bewusst, dass nicht nur die Kurden eine ethnische Minderheit sind: Sie selbst gehören zu einer Minorität, und zwar zur Gruppe der Zaza mit einer eigenen Sprache.

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Ausschnitt der CD «Das Tor der Tausenden»
01:13 min
abspielen. Laufzeit 1 Minute 13 Sekunden.

Traditionen festhalten

Die beiden Komponisten, Gitarre- und Saz-Spieler beginnen Feldaufnahmen zu machen in ihrer türkischen Heimatregion Dersim, dem heutigen Tunceli. Sie bitten ältere Verwandte, Freunde und Bekannte Lieder zu singen. Das Ziel: ihre Tradition, Musik und Sprache festhalten. Eine Tradition, die nur noch von der älteren Generation gepflegt wird und auszusterben droht.

Dersim – der Name bedeutet Silbertor – ist die zweitkleinste Provinz der Türkei. Eine schwer zugängliche Bergregion zwischen Zentral- und Ostanatolien. Hier leben Zazas, Kurden und viele andere Völker.

Dersim bildete einen eigenen Musikstil aus

Die Aleviten berufen sich auf Ali, den Neffen und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Ihre Tradition kann nur via Musik und Lieder vermittelt werden. Dabei steht die Langhalslaute Saz, auch Bağlama genannt, im Mittelpunkt: Seit jeher wird dieses Instrument verwendet, um das gesamte religiöse Wissen durch Bağlama-begleitete Lieder zu überliefern und zu verbreiten.

Die Tondokumente der engagierten Musiker geben Einblick in die jahrhundertealte Dersim-Kultur mit ihren einzigartigen Klängen. Dort entwickeln sich über Jahrhunderte in der Abgeschiedenheit des anatolischen Hochlandes regionale Musikstile ganz eigener Art.

Mit Klageliedern überwindet Dersim seine Traumata

Während ihrer Arbeit stossen die Kahraman-Brüder auf Schweigen. Das Dersim-Massaker von 1937/38 hat sich ins Gedächtnis der älteren Generation eingebrannt. Hintergrund: Die Dersimer kämpfen gegen die «Türkisierung» von Kemal Atatürk. Das türkische Militär reagiert mit Ermordung ganzer Dörfer und Vertreibungen. Die Archivare brechen das lange Schweigen mit dem einzigen Tondokument über dieses blutige Massaker. Ein Klagelied, kurz «Klage» genannt, hat den Aufstand von 1937/38 zum Thema:

«Euer Bruder Hidir sagt, wir waren von Blindheit geschlagen. Die Waffen legten wir nieder und ergaben uns. Zu dieser Zeit wandten sich alle heiligen Stätten und Höhen von uns ab. Unsere Leichen liessen sie in Sonne und Wind liegen. Er sagt, seitdem sie die Weisen Dersims wegbrachten, bauten sie für uns Kasernen und Gefängnisse. Jeden ermordeten sie.» Das Klagelied ist das einzige Mittel, das Trauma zu überwinden.

Die Brüder bewahren ...

Die Brüder Kahraman halten zum einen Aufnahmen der alten Dersimer Menschen fest: Lieder, die von einfachen zweisaitigen Lauten begleitet werden, angeschlagen mit den Händen, ohne Plektrum. Die Stimmen sind mal kräftig, mal mit expressivem Vibrato. Der Klang der Zaza-Sprache ist markant. Über 1000 Stunden haben die Pioniere zusammengetragen – Sprichwörter, Erzählungen, Gebete und Klagelieder.

... und interpretieren alte Lieder neu.

Zum anderen beweisen die Komponisten mit dem Album «Ceveré Hazaru / Das Tor zu den Tausenden», dass die Musik aus Tunceli sich in der Diaspora verändert – Kemal Kahraman lebt seit zwanzig Jahren als politischer Flüchtling in Berlin. Die Musiker haben die authentischen Feldaufnahmen nach ihrem musikalischen Verständnis mit modernen Instrumenten wie Gitarre und Geige interpretiert, modernisiert und in die heutige Zeit überführt. So lebt das Dersim-Erbe weiter.

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