Die rechte Hand spielt ein Liedchen in Moll, die linke schöne sich wiederholende Dreiklänge: So lassen sich so gut wie alle Stücke auf dem Album «Underwater» von Ludovico Einaudi zusammenfassen. So harmlos, dass man sich wundert, warum diese Musik so viele Hörerinnen und Hörer auf die Palme bringt.
Das boomende Musikgenre «Neoklassik» ist ein Zankapfel. Für die einen bedeutet das seichte Geplätscher dieser Gebrauchsmusik den Tod der klassischen Musik. Die andern sehen in der Neoklassik eine Chance für die krisengeplagte Klassikindustrie.
Eine Chance für die Klassik?
Studien zeigen , dass die Klicks von Neoklassik auf den diversen Streamingplattformen in den letzten Jahren massiv zugenommen haben. Gleichzeitig hat auch das Streamen von Klassik zugenommen. Befruchten sich diese Trends gegenseitig?
Eine Studie des Royal Philharmonic Orchestra von 2020 zeigt: Immer mehr junge User und Userinnen streamen klassische Musiklisten: Die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen hat um 11 Prozent zugenommen, diejenige unter 35 um 17 Prozent.
Diese Altersgruppen kümmern sich nicht darum, ob sie Einaudi oder Chopin hören – für sie ist beides «klassisch». Auch die Algorithmen nehmen keine strikte Trennung vor, wenn sie einer Streamerin von «Romantic Neoclassics» auch mal Chopin vorschlagen. Und plötzlich kommt diese auf den Geschmack und hört sich nun auch vermehrt klassische Musik an.
An der grossen Hörerschaft vorbei
Lässt sich die Klassikkrise also dank Neoklassik überwinden? Nein. Denn das Problem hierbei sind nicht Mozart, Chopin und Co., sondern die Stücke der sogenannten Moderne, also die klassische Musik ab 1900.
Nach Abschluss meines Grundstudiums dachte ich mir: Ist das alles?
Diese neueren Formen der klassischen Musik seien in der Sackgasse, meint der Musikwissenschaftler Jörg Holzmann, ein Spezialist in Sachen Neoklassik. Letztere sei nur deshalb so erfolgreich, weil die klassische Musik seit dem 20. Jahrhundert vergleichsweise erfolglos blieb, sagt er: «12-Tonmusik, freie Atonalität und Serialismus waren nicht unbedingt der richtige Weg. Heute kümmert sich ein kleiner spezialisierter Kreis um diese Musik. Die grosse Hörerschaft hat sich innerhalb der klassischen Musik wieder nach etwas Fassbarerem gesehnt.»
Sprich: nicht die Neoklassik sei das Problem, sondern die Avantgarde der klassischen Musik, erklärt Holzmann.
Problemzone Neoklassik
Doch von dieser Seite regt sich Widerspruch. Die Neoklassik vergifte den Klassikmarkt, weil die Menschen verlernten, aktiv zuzuhören und Klassik als Klangtapete benützten. Neoklassik sei unterkomplex und liesse unser Musikgehirn verkümmern: Musik als Tranquilizer, damit man im Klangnebel nicht mehr denken müsse.
Ein Blick auf die zeitgenössische Musik zeigt jedoch: Schubladendenken ist nicht mehr zeitgemäss. Stattdessen gibt es viele junge, top ausgebildete klassische Musikerinnen, die sich nicht um Genre-Diskussionen kümmern. Sie machen, worauf sie Lust haben.
Ist Neoklassik am Ende Popmusik?
Ein Beispiel dafür ist die bosnisch-schweizerische Cellistin Lana Kostic, die unter dem Künstlernamen Lakiko auftritt. Sie begann schon mit vier Jahren Cello zu spielen. Bereits seit ihrem 11. Geburtstag sei sie «voll in der Klassikmaschinerie drin», sagt sie. «Ich hatte damals schon zehn Musikfächer. Und so ging es weiter: Nach Abschluss meines Grundstudiums dachte ich mir: Ist das alles?»
Nach und nach habe sie ein ganz neues Konzept ihres Musikerinnenberufes entwickelt, das habe Jahre gedauert, sagt Kostic. «Und eines Tages war’s so weit: Ich trat als ‹Lakiko› auf. Allein, mit Cello, Loopstation, meiner Singstimme.» Mit dem Label Neoklassik kann sie leben: «So werde ich promotet. Ich selbst würde meine Musik als Pop bezeichnen.»
Neoklassik ist vieles
Lakikos Album hat tatsächlich nicht viel gemein mit der gängigen Neoklassik. Zu gross ist ihre klangliche und dynamische Bandbreite, zu verschieden sind die einzelnen Titel. Zudem ist das Cello kein typisches Instrument der Neoklassik. Auch setzt sie ihre Singstimme ein und ihre Texte sind wichtig, beides eher Tabus in der Neoklassik.
Aber im Debütalbum von Lakiko sind ganz klar neoklassische Elemente drin: repetitive Begleitung, geloopte Stimmen, Tonalität. Lana Kostic ist nur ein Beispiel für die Bandbreite, die unter dem Label «Neoklassik» anzutreffen ist.
«Neoklassik ist ein musikhistorisches Phänomen»
Also keine Schwarz-weiss-Malerei, sondern mindestens Fifty Shades of Grey? Jörg Holzmann sagt dazu: «Aus dem Spannungsfeld von Pro und Kontra kann man entkommen, indem man erst mal schaut: Wo hat die Neoklassik ihre Wurzeln?»
Er nennt als Beispiele die Salonmusik des ausgehenden Jahrhunderts, die Minimalmusic oder den Komponisten Erik Satie und dessen «Musique d’ameublement».
«Somit kann man es als musikhistorisches Phänomen begreifen. Und einfach gespannt sein, wohin es sich weiterentwickelt. So ist man als Zuhörerin oder Zuhörer Teil dieser musikhistorischen Entwicklung», sagt Holzmann.
Die Zukunft des Genres bleibt spannend
Zugegeben: Auch mir sträuben sich die Haare, wenn ich den Neoklassikgott Ludovico Einaudi auf einer Eisscholle auf Spitzbergen Klavier spielen sehe, die Musik so fad wie Plastik, die Botschaft «Rettet die Arktis» so grün wie Kunstrasen. Aber deswegen ein Genre, das offensichtlich gerade von jungen Menschen rege gehört wird, rundweg abzulehnen? Das kann nicht die Lösung sein.
Vor allem kann man eine junge Musikgeneration dabei begleiten, wie sie in diesen ökonomisch und politisch schwierigen Zeiten die Musik am Laufen hält und beobachten, welche neuen Wege sie dabei beschreitet. Und diese Reise ist vielfältig, spannend und immer von neuem überraschend.