Franz Schubert’s Skizzen zu seiner 10. Sinfonie haben etwas Visionäres – als ob hier einer voraus gehört hätte. Im Herbst 1828, in den letzten Wochen seines Lebens, notierte er Musik in einer Art, die erst 70 Jahre später aktuell werden sollte, wie sie erst Gustav Mahler wieder komponieren und aufführen würde.
Aber Schuberts Sinfonie blieb unfertig. Die Skizzen befanden sich in einem Wust von Blättern, neben Kontrapunkt-Studien, die er zur gleichen Zeit zu Papier brachte. Erst um 1970 kamen Musikforscher zum Schluss, dass es sich dabei um das Material für die geplante Sinfonie Nr.10 in D-Dur D 936A handeln muss.
Komplexes Puzzle, wie ein Fresko restauriert
Luciano Berio lässt die Sinfonie aus Schuberts letztem Lebensjahr wieder auferstehen. Allerdings nicht als Rekonstruktion (auch dies ist von anderer Seite schon versucht worden). Aus Schuberts losen Fragmenten (und den Kontrapunkt-Übungen) gestaltet Berio 1988/89 ein restauriertes Fresko mit leuchtend romantischen und blass verwischten modernen Farben.
In seinem Vorwort zu «Rendering» erklärt der italienische Avantgarde-Komponist, was ihn am Material aus Schuberts Nachlass inspiriert hat: «…diese Skizzen sind ziemlich komplex und von grosser Schönheit; sie enthalten weitere Hinwese auf die neuen Wege, die Schubert weg von Beethovens Einfluss führten.»
Grosse Romantik, ganz modern?
Berio schickt die Hörer mit seinem «Rendering» in die Zeitschlaufe: Schubert hört weit voraus, Berio lauscht weit nach rückwärts und belauscht Schubert beim Komponieren. Ja, er assistiert ihm beim Orchestrieren, indem er eine Besetzung wählt, wie sie Schubert in seiner grossen C-Dur Sinfonie einsetzte.
Beim Anhören gerät man in ein Labyrinth aus Fragen: Ist das wirklich Schubert, oder hat Berio hier nachgeholfen? Würde Schubert z.B. eine Celesta verwenden in seinem Orchester, wenn er 1989 gelebt hätte? Wo hört Berios Musik auf, wo beginnt wieder ein Stückchen Schubert? Die Celesta gibt jeweils das Signal.
Berio, der respektvolle Schlaumeier
Beim mehrmaligen Anhören wird klar: Berio nimmt sich doch sehr zurück, aus Respekt vor Schubert. Aus Liebe zu einer Musik, die er unbedingt retten will, bevor die Zeit das Papier zerfrisst, auf dem Schubert seine Ideen notierte. Daher der Titel von Berios Komposition: «Rendering».
Und Berio, der melodiensüchtige Avantgardist des 20. Jahrhunderts, ist ein Schlaumeier, ein Furbo: Er erarbeitet sich mit seinem «Rendering» – der Wieder-Gabe Schuberts – auch die Möglichkeit, so pathetisch zu sein, wie es nur ein echter Romantiker sein konnte.
Da ist sie wieder, die Zeitschlaufe. Und die Fragezeichen dazu: Ist das nun Kitsch, oder doch einfach grosse Musik?