«Carmen» strahlt weit übers Theater hinaus. Nicht nur die Operngeschichte, sondern auch die Gesellschaft erhält mit der Protagonistin dieses Stück ein emanzipiertes, weibliches «role model».
Für Freiheit geboren
Die so heiss- wie kaltblütige Carmen sucht sich ihre Geliebten schön selber aus, sie lässt sich weder festhalten noch ordnet sie sich patriarchalischen Strukturen unter. Die persönliche Freiheit steht bei ihr über allem: «Frei ist sie geboren und frei wird sie sterben», so beschreibt sich Carmen gegen Ende der Oper selbst.
Deswegen wird Carmen von manchen auch zu den Hauptfiguren in der Geschichte der Frauenemanzipation des 19. Jahrhunderts gezählt. Vielleicht ist sie eine Art fiktive Angelina Jolie von damals?
Mehr Sanftmut, weniger Rebellion
Georges Bizet ist es, der diesen Stoff für seine neue Oper wählt. Er ist fasziniert von Prosper Mérimées gleichnamiger Novelle, und er hält sogar dann noch an der Carmen-Geschichte fest, als einer der beiden damaligen Operndirektoren der Opéra-Comique in Paris sich über die Themenwahl empört.
Dieser findet unter anderem, die Geschichte sei viel zu brutal. Der Komponist und seine beiden Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy müssen daher versprechen, dass sie die ursprüngliche Handlung entschärfen und mit Micaëla auch eine sanftmütige Figur hinzuzufügen.
Exotik ist in
Bizet ebnet mit dem für die damalige Zeit ungewöhnlichen Stoff auch den Weg für die Opern des «Verismo». Für realistische Opern also, in welcher realitätsnahe Personen und Handlungen auf der Bühne gezeigt werden und auch musikalisch Authentizität angestrebt wird.
Neben der starken Frauenfigur und der aufregenden Story hat es Bizet auch die Exotik von «Carmen» angetan. Er liebt Geschichten aus fremden Ländern, und er liegt damit ganz im Trend der damaligen Zeit.
Mit seinen Opern «Djamileh», die in Ägypten spielt, und «Les pêcheurs de perles», einer Geschichte aus Sri Lanka, hatte er schon früher Musik mit besonderem Kolorit geschrieben. Und in seiner letzten Oper «Carmen» aus dem Jahr 1875 verwendet der Komponist ebenfalls musikalische Idiome, die für das mitteleuropäische Publikum exotisch geklungen haben dürften.
Zündstoff und iberisches Temperament
Das aus fünf Tönen bestehende Schicksalsmotiv etwa, das gleich nach der Ouvertüre erklingt und während der ganzen Oper in unterschiedlichen Gestalten präsent ist, ist geprägt vom übermässigen Sekundschritt der sogenannten Zigeuner-Tonleiter (einer speziellen Form der Moll-Tonleiter).
Die Tanzlieder «Seguidilla» und «Habanera» verströmen iberisches Temperament, und auch Escamillos feuriges Torero-Couplet mit seinen «Olé»-Rufen und Carmens «Chanson bohème» im 2. Akt verfehlen ihre zündende Wirkung nie.