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Musik Eine Vision für das Orchester der Zukunft

Ist die Blüte des klassischen Konzerts vorbei? Nein. Denn die Orchester schauen mit ihrer Musik bereits heute in die Zukunft. Aber Orchester und Publikum müssen neugierig bleiben – und sich Neues einfallen lassen. Ideen gibt es. Aber nicht alle davon sind gut.

Eine Vision des künftigen Orchesters: Braucht es sie überhaupt? Ist das Orchester heute nicht bereits eine Klang-Vision? Sind die wunderbar farbigen Werke Mahlers und Debussys, ihrer Zeitgenossen und Nachfolger nicht fantastisch genug? Genügt es nicht, sie nachzuzeichnen, spielend, hörend, im Konzertsaal, im Ohr?

Meine einzige Vision – oder vielleicht eher mein Wunsch – wäre also, dass diese Klänge weiterhin im Konzertsaal stattfinden. Regelmässig, in ihrer ganzen Vielfalt. Mit den neuartigsten Klangkombinationen zeitgenössischer Komponisten, mit dem Orchesterrauschen eines Helmut Lachenmann, mit den Obertonspektren eines Gérard Grisey oder den Klangwellen eines John Adams. Aber mit all dem, was junge Komponisten von heute hierfür erfinden.

Ist Sparen die Lösung?

Rückensicht auf einen jungen Mann, der vor einem Notenständer sitzt und Geige spielt.
Legende: Was müssen Musikerinnen und Veranstalter tun, damit sich das Orchester weiterentwickelt? Keystone

Mein Wunsch wäre, dass es die Orchester dieser neuesten Klänge mit Neugier spielen – für ein neugieriges Publikum. Die Entdeckungsreise endet erst, wenn die Neugier aufhört.

Bloss bedarf es dafür vieler Musikerinnen und Musiker – und die sind nicht gerade billig. Will sich eine Gesellschaft das mit Steuergeldern leisten, wo die Hören nicht in Millionen, sondern «nur» in Tausenden zu zählen sind? Wozu also noch diese ganze Menschenmaschinerie auf dem Podium versammeln? Liesse sich das nicht sogar einfacher und preisgünstiger realisieren?

Was die Computertechnologie zu bieten hat

Nicht nur durch Fusionen von Klangkörpern – so geschieht es jetzt auf so grausame Weise beim Südwestrundfunk mit den beiden renommierten Orchestern von Freiburg/Baden-Baden und Stuttgart. Sondern auch digital: Die Computertechnologie hält uns längst die Sounds bereit. Via Notationsprogramm lassen sich bereits heute die Instrumente imitieren, Filme werden mit diesen Klängen unterlegt, immer täuschender, wie echt.

Irgendeines Tages – das wäre eine zweite Vision – wird aus riesigen Lautsprechern ein realitäres Orchester erklingen, ein Klang, geschickt mit kleinen – maschinell produzierten – menschlichen Fehlern oder zumindest Ungenauigkeiten gespickt, die das Ganze lebendig erscheinen lassen. Vielleicht sogar gefüttert mit den regionalen Besonderheiten der Ensembles: voilà das Tonhalle-Orchester, voilà das Orchestre de la Suisse Romande, voilà die Berliner Philharmoniker usw., alles per Knopfdruck ab Computer. Und so würde es auch hier gelingen, die Menschen – und die Musik – durch Maschinen zu ersetzen, wie sonst schon an so vielen Orten.

Komponisten machen sich unersetzbar

Warum auch nicht? Wieso sollten wir denn nun gerade den Orchestermusikern nachtrauern, wo sie das Schicksal vieler teilen? Das ist die zweite Vision, eine traurige. Wir werden die Erfinder einer solchen Technologie bewundern – und sie verfluchen, falls es ihnen glücken sollte, das Orchester überflüssig zu machen. Denn sie greifen uns ins musikalische Herz.

Ist es ein Zufall, dass Komponisten daran arbeiten, dieses Klangfeld so zu erweitern? So, dass es vielleicht unersetzbar wird: durch besondere Spielweisen, Intonationen, Geräusche, Interaktionen und vor allem durch eine erweiterte Räumlichkeit, sodass die Musik aus allen Richtungen rund ums Publikum ertönt? In der Hoffnung und Illusion, dass derlei nur von Menschen zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Situation realisierbar und sonst nicht reproduzierbar ist? Hier und Jetzt.

Doch auch ohne diese Neuerungen ist es gerade dieser einmalige Moment, wohin wir uns dereinst wie in einem Traum an vergangene Tage zurücksehnen werden: dieser farbige und vibrierende Moment des Spielens und Hörens. Musik in dieser so regen geistigen und körperlichen Kommunikation. Das «Concertare» zwischen Musiker und Publikum – sie mögen beide auch künftig noch lebendig und jung bleiben …

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