Gesang ist erotisch. Das bestätigen Sängerinnen, das bestätigt die Neurowissenschaft und auch die Musikologie sieht diesen Zusammenhang. Ebenso die Philosophie.
Der französische Philosoph Roland Barthes sagt: Die Stimme ist Objekt des Begehrens, weil sie uns den anderen Menschen in seinem ganzen Wesen zeigt. Das heisst: Wir bekommen bei Stimmen – und wenn sie denn erst noch singen – Gänsehaut.
Claudio Monteverdi: «Pur ti miro» aus «L’incoronazione di Poppea»
Man kann sie in den Klängen dieses Duetts förmlich sehen: Hände, die zärtlich über Gesichter streichen. Wangen, die aneinander erglühen. Töne des Einklangs. Töne des Verschmelzens.
Wolfgang Amadeus Mozart: «Là ci darem la mano» aus «Don Giovanni»
Ein Dialog zwischen Mann und Frau. Zwei Melodien, die sich ergänzen. Er drängend, sie zögernd. Ihre Phrasen folgen sich immer enger und in kürzeren Abständen. Bis die Sache klar ist: «Andiam!» – lass uns Liebe machen!
Alfredo Catalani: «Ebben? Ne andró lontana» aus «La Wally»
Eine junge Frau begehrt den einen, soll aber den anderen heiraten. Sie verlässt darum das Elternhaus und begibt sich in die Freiheit. Um ihrer Liebe nachgehen zu können? Um erwachsen und selbstbestimmt werden zu können jedenfalls. Das soll für das Lieben ja Voraussetzung sein.
Giuseppe Verdi: «Tacea la notte» aus «Il Trovatore»
Herausgesungen in einen nächtlichen Garten, in den duftenden Ort des Begehrens. Die Einfachheit dieser Melodie, eine Tonleiter hoch und wieder runter – das sind die Gesten der Erotik. Und subtil steigert sich das Ganze, ohne dass wir es zunächst merken. Diese Arie ist ohne ihren Bezug zur Erotik gar nicht zu denken.
Richard Wagner: «Mild und leise» aus «Tristan und Isolde»
Ertrinken und versinken will sie: Isolde, die ihr Leben über dem Leichnam ihres Geliebten aushaucht. Doch was heisst hier aushauchen? Ihr Tod ist Eingeständnis der grössten denkbaren Liebe, nämlich derjenigen, die sich aufgibt für den anderen. Hier erfährt sie mit dem Wogen des Orchesters «unbewusst höchste Lust» – und wir mit ihr.