Ein ganzes Leben in zweieinhalb Minuten erzählen – das kann das Lied. Gemeint ist das romantische Kunstlied, das seine Blüte vor 200 Jahren hatte: mit Franz Schubert und seinen Zeitgenossen, die Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe und anderen vertont haben.
Kleinode sind es, Konzentrate des Urmenschlichen – und noch heute aktuell. «Denn die Gefühle, die in diesen Liedern verhandelt werden, sind dieselben wie heute», sagt Silke Gäng.
Das Lied lebt
Silke Gäng ist Sängerin und so begeistert vom Lied, dass sie ein neues Festival gegründet hat: LiedBasel . Ende Mai hatte es Premiere. Es ist nicht das Einzige seiner Art: In Zürich gibt es die «Freunde des Liedes und regelmässig Liederabende im Opernhaus Zürich.
Dann gibt es die «Liedrezitale Bern», im Wallis das «Rhonefestival für Liedkunst» und an die Schubertiade Schwarzenberg und den Heidelberger Frühling pilgern regelmässig auch Schweizer Lied-Fans.
Sie alle pflegen eine Konzertform, die konzentrierter kaum sein könnte: den Liederabend. Kein Brimborium, kein Spektakel ist da auf der Bühne zu sehen, nur ein grosser schwarzer Flügel, zwei Musizierende, eine oder einer am Klavier, der oder die andere steht da und singt.
Aber was da gesungen wird, was da musikalisch philosophiert und ergründet wird – das ist an Poesie und Tiefgang kaum zu überbieten.
5 Lieder voller Menschsein
«Das Tolle am Lied ist diese Menschenliebe», sagt Silke Gäng. «Die Komponisten hatten so viel Verständnis für die Gefühle der Menschen, auch für die Abgründe. Sie haben das ganze Spektrum vom Menschsein in ein kleines Lied gepackt.» Zum Beispiel in den folgenden fünf Liedern:
Todesangst – Franz Schuberts «Erlkönig»
Abrupt wird die Szene eröffnet: Ein Vater reitet im Galopp, hält seinen kranken Sohn im Arm. Dieser hat Fieberträume, ängstigt sich vor dem Erlkönig, der ihn holen wolle. Der Vater versteht ihn nicht. Als sie endlich den Hof erreichen, ist das Kind tot.
Enttäuschung – Schuberts «Die Liebe hat gelogen»
Ein Lied zu einem zeitlosen Thema, über Gefühle, die sich täglich überall auf der Welt einstellen: Die Enttäuschung über die Liebe, die erst feurig entbrennt, und dann plötzlich nicht mehr da ist. Wie ist so etwas möglich? Franz Schubert meint: «Die Liebe hat gelogen!»
Hybris – Wolfs «Feuerreiter»
Die Sage vom Feuerreiter, rasend erzählt: Es brennt in einer Mühle, der «Feuerreiter» eilt dazu – wie immer, um zu helfen. wie immer zu helfen. Doch diesmal stirbt er in den Flammen. Ein Lied der Klangextreme, ein Drama, live miterlebt.
Glück – Robert Schumanns «Mondnacht»
«Es war als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst» - so beginnt Schumanns «Mondnacht». Sängerin und LiedBasel-Gründerin Silke Gäng: «Diese unglaubliche Ruhe und dieser Frieden, den das Klavier schon in den ersten zwei Takten bringt! Hier höre ich ganz viel Menschenliebe.»
Innere Einkehr – Mahlers «Ich bin der Welt abhanden gekommen»
Dieses Lied zeigt uns das Gegenteil unseres heutigen Lebenswandels auf. Das poetische Ich zieht sich zurück aus der Gesellschaft – hinein in eine «Einsiedlerei». Aber nicht, um zu sterben – sondern um kreativ zu sein. Wie Gustav Mahler einst in seinem einsamen Komponierhäuschen in den Bergen.