Ein riesiges, leeres Spinnennetz hängt schlaff über der Konzertbühne im KKL in Luzern. Das Klassik-Konzert ist so alt und verstaubt, dass selbst die Spinnen weiterziehen an aufregendere Orte.
So könnte man das Bühnenbild interpretieren, das sich Patricia Kopatchinskaja ausgedacht hat. Dabei ist ihre Konzertinszenierung «Bye Bye Beethoven» beim Lucerne Festival nicht einfach eine Abrechnung mit den Ritualen des Klassik-Betriebs, sondern ein In-Frage-Stellen derselben.
In sieben Stücken zeigt sie gemeinsam mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra, wie leicht sich manche Gewohnheiten abschaffen lassen.
Den Dirigenten braucht es nicht
Den Dirigenten etwa. Hier braucht es keinen, denn die jungen Leute im Orchester musizieren so organisch zusammen, als hätten sie schon immer gemeinsam Kammermusik gemacht – und wären nicht erst während des Festivals zusammengekommen.
Oder die Angewohnheit, ein musikalisches Werk immer von vorn aufzuführen. Haydns Abschiedssinfonie wurde hier einfach rückwärts gespielt – was ein wenig seltsam klang, aber auch einen interessanten Blick auf die Bauart der klassischen Musik ermöglichte: Sie funktioniert auch rückwärts. Entwicklungen und Höhepunkte sind so auch zu erkennen.
Corona vereitelt allzu verrückte Konzertformate
Dazu haben Patricia Kopatchinskaja und ihr Team mit Lichteffekten, Nebelmaschine, Handymusik und Sprechgesang gezeigt, wie abwechslungsreich und unterhaltsam ein Klassik-Konzert sein kann. Aber ist das wirklich «verrückt», wie das Festival-Motto in diesem Jahr lautete?
«Verrückt» ist auf jeden Fall, dass das Festival trotz andauernder Pandemie hat stattfinden können. Viele Verrücktheiten waren geplant, konnten aufgrund des Schutzkonzepts aber nicht realisiert werden.
Ein singendes Publikum, das zwischen den Musikerinnen und Musikern umherläuft und mit seinen Aktionen den Fortgang der Komposition mit beeinflusst – undenkbar in Corona-Zeiten.
Ein Pianist mit Handschuhen
Doch im Rahmen des Möglichen gab es sie, die verrückten Momente – nicht nur in den inszenierten Projekten wie beim «Staatstheater» von Mauricio Kagel, das in Coproduktion mit dem Luzerner Theater gegeben wurde. Ein verrücktes Opern-Potpourri, das in einer Prozession Musiker und Publikum in den Stadtraum führt und in einer katholischen Rave-Party gipfelt.
Auch auf der Konzertbühne passierte Verrücktes, etwa bei der Uraufführung des neuen Klavierkonzerts von Rebecca Saunders, der diesjährigen composer-in-residence. Ihre effektvolle Musik verlangt vom Solisten so rasend schnelle Glissandi, dass der Pianist Nicolas Hodges spezielle Handschuhe anziehen musste, um sich die Finger nicht blutig zu spielen.
Das Publikum ist offen für Neues
Oder das neue Stück des tschechischen Komponisten Miroslav Srnka, in dem das Orchester so raunt und murmelt, als wäre hier eine Menschenmasse orchestriert worden – inklusive Beschleunigung, Drama und Witz, wie in einem alten Trickfilm – hier furios gespielt von den Bamberger Symphonikern mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša.
Doch die Mehrzahl der Konzerte blieb den gewohnten Ritualen treu – und brachte Musik aufs Podium, die man schon seit Jahren beim Lucerne Festival hört. Spätestens wenn diese verrückte Pandemie vorbei ist, sollte das Lucerne Festival in seinen Bestrebungen um Erneuerung und verrückter Vielfalt noch mutiger werden. Das Publikum – so lassen es die Auslastungen in den als «verrückt» gekennzeichneten Konzertformaten vermuten – ist längst bereit.