Ausgerechnet nach dem flugunfähigen Strauss nennt Lou Reed seinen Dance-Song: In «The Ostrich» mimt er den Ansager am Bühnenrand der Tanzfläche. Schreit Schrittanweisungen für die Tänzerinnen und Tänzer. Das an sich ist typisch 1960er-Jahre. Seine Choreo ist allerdings nicht wirklich machbar.
«Leg deinen Kopf auf den Boden, steh drauf», singt Lou Reed. Absurder geht’s kaum. Aber «The Ostrich» wird als einziger von Reeds frühen Songs, die er im Auftrag von Pickwick Records schrieb, so etwas wie ein Hit.
Auch andere dieser Auftragssongs tragen seine Handschrift. Provokativ für die frühen 1960er ist «Cycle Annie». Reed singt von einer Motorradfahrerin, die ihren Freund rumkutschiert. Ziemlich emanzipiert in jenen noch recht bürgerlich angepassten Zeiten. Musikalisch bettet er die Story in harmlosen Surf-Rock.
Pickwick Records ist ein «Budget Label». Hier kommt Quantität vor Qualität. «Schreib zehn Surf-Songs, zehn Detroit-Songs», erinnerte sich Lou Reed an die Anweisungen der Studio-Bosse.
Malochen für ein Trash-Label
Im Team mit drei Kollegen schreibt er täglich ein Dutzend Lieder from scratch, was bedeutet: Reed komponiert, textet und nimmt die Stücke im hauseigenen Studio auch gleich selbst auf. Der Ablauf wiederholt sich endlos, sechs bis sieben Tage die Woche.
Pickwick ist Songfabrik für einen hungrigen Markt. Die schlechte Aufnahmequalität wird in Kauf genommen. Die Songs werden zu Compilations zusammengestellt und für 99 Cents im Supermarkt verhökert. Die Bandnamen, unter denen sie erscheinen, sind auswechselbar.
Reeds Name taucht nur im Songwriter-Team auf. Keine guten Karriereaussichten. Für den jungen Musiker dennoch ein Glücksfall: Bei Pickwick kann er Erfahrungen sammeln.
Freiheit am Fliessband
Reed lernt, wie er die Regler einstellen muss, damit eine Aufnahme gelingt. Und das Wichtigste: Er schreibt Songs in allen möglichen Farben und Stilen. Surf-Songs, Lieder à la «British Invasion», Garage Rock. Schlicht alles, was sich gut verkauft.
Dass er für Pickwick in verschiedene Rollen schlüpft: Inspirierend für einen Künstler, der auch später gerne mit Identitäten spielt. Knapp ein Jahr arbeitet der 22-Jährige beim Label. Lang genug, um zu verstehen, welche Bedürfnisse der Markt hat – und wie er mit ihnen spielen kann.
Sein Dance-Song holt John Cale ins Boot
Mit dem eingangs erwähnten «The Ostrich», seinem ersten Hit, soll Lou Reed sogar auf Tour gehen. Nur fehlt ihm dazu die Band. Auf der Suche nach passenden Musikern holt Pickwick einen Kunststudenten ins Studio: John Cale.
Cale ist fasziniert vom absurden Text. Auch die ungewöhnliche Gitarren-Stimmung begeistert ihn. Lou Reed hat alle sechs Saiten auf denselben Ton gestimmt. Das verleiht «The Ostrich» eine flirrende Atmosphäre.
Als The Primitives treten John Cale und Lou Reed zusammen auf. Und schreiben ihren ersten gemeinsamen Song. Ihr «Why Don't You Smile Now» ist nahe bei der Musik von The Velvet Underground, Lou Reeds späterer Band.
Der Song «Why Don't You Smile Now» gibt dem neu erschienenen Album auch den Titel. Das Album dokumentiert Lou Reeds erste Fingerübungen als Songwriter, Lyriker und Performer. Eine unterhaltsame, aufschlussreiche Zeitreise.