Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Musik Generation Retro: Gehen den Musikern die Ideen aus?

Retro ist in der Popmusik zum weit verbreiteten Stilmittel geworden. Was zur Folge hat, dass nichts Neues mehr entsteht. Und das dürfte leider auch für einen Moment so bleiben.

Retro lässt sich im Pop seit einiger Zeit beobachten: Amy Winehouse hat vor zehn Jahren den Soul zurück in die Charts gebracht. Ein paar Jahre später hat das britische Duo Hurts die bis anhin verpönten 80er-Jahre wieder hitparadentauglich gemacht. Und Dank Mumford & Sons aus England feiert der Folk ein Revival – bis an die Spitze der Charts.

Geld machen mit alten Ideen

Der Blick auf die Hitparade zeigt: Die breite Masse will Retro. Aber auch in der alternativen Musikszene finden sich viele Künstler, die alte Musikstile aufgreifen. Nehmen wir die Band Foxygen aus den USA, die von Musikblogs rund um den Globus gehypt wurde – schon die Musik allein katapultiert einen in die 60er-Jahre zurück – ebenso die Texte. «I left my heart in San Francisco...» – die Worte stehen für sich.

Auch in der alternativen Schweizer Musikszene finden wir Retro: The Animen aus Genf spielen souligen Vintage-Rock. The Calling Sirens aus Zürich machen Blues und Soul, der vom Charme her eher auf Vinyl denn auf einen MP3-Player gehört. Admiral James T. und Verena von Horsten aus dem Raum Zürich klingen wie Nancy Sinatra und Lee Hazlewood, deren «Summer Wine» von 1967 heute noch zu Cover-Versionen animiert.

Woher kommt diese Sehnsucht, diese Nostalgie?

«In Zeiten, die als unsicher empfunden werden oder Technologie einen grossen Einfluss hat, greifen wir gerne auf Sachen zurück, die wir schon kennen», sagt Mauro Guarise vom Gottlieb Duttweiler Institut, das sich auf Trendforschung spezialisiert hat.

In Sachen Technologie ist so viel passiert, dass die Welt eine andere geworden ist. Jederzeit ist jede Information abrufbar – auch musikalisch. Musikern steht im Netz der ganze Fundus der Musik offen, so wie das keine Generation vorher gekannt hat. Von den Gesängen der Navajo-Indianer zu Brahms über The Smiths zu Justin Bieber – alles ist auf einen Klick verfügbar. «Durch das Internet haben wir Zugriff zu extrem viel Musik. Vergangenheit und Gegenwart mischen sich zu etwas, das ich im Shuffle-Modus auf dem MP3-Player gar nicht mehr voneinander unterscheiden kann», sagt Mauro Guarise.

Kopien und Revivals

Zwei Männer in Anzügen mit gegelten Haaren
Legende: Musik wie aus den 80ern: Das Duo Hurts. RCA Records

Und trotzdem ist es paradox: Obwohl die Generation Internet quasi auf alle Musik zurückgreifen kann, die je veröffentlicht wurde, ist nichts Neues entstanden. Im Gegenteil, die Vergangenheit wird kopiert, ein Revival jagt das nächste. Warum flüchten sich Musikerinnen und Musiker in eine Zeit, die sie selber gar nicht miterlebt haben? Wer heute um die 30 Jahre alt ist und sich musikalisch an den 60er-Jahren orientiert, hat diese Zeit gar nicht miterlebt – und vieles, was danach kam, ebenfalls nicht. «Wer alte Stile bemüht, wünscht sich in ein goldenes Zeitalter zurück», erklärt Mauro Guarise. «Die 60er-Jahre stehen für eine Zeit, in der Musik pur und authentisch war. Die Musikindustrie hatte sich zu dieser Zeit noch nicht selbst zerfleischt.»

Die Retrowelle zeigt zwei Dinge: Einerseits ist die Welt von heute so komplex, dass sie uns überfordert – und darum befassen wir uns gerne mit Dingen, die wir kennen, verstehen und einordnen können. Und sie zeigt, wie kaputt das Musikbusiness heute ist, wenn sich Künstlerinnen und Künstler nach einer Zeit sehnen, in der Musik noch einen Wert hatte und nicht zur Wegwerf-Ware geworden war.

Wohin geht die Musik, wenn wir rückwärts gehen?

Jedes Jahrzehnt hat ihre Musik, ihr Ding gehabt: Die 60er die Flower-Power-Bewegung, in den 70ern setzte der Hip-Hop in der New Yorker Bronx zur Eroberung der Welt an. Die Wut gegen das Establishment fand in den 80ern im Punk eine Stimme, dann kam der Grunge und die 90er hatten den Techno – und dann? Dann ist musikalisch nichts Neues mehr gekommen.

John Bürgin ist Musikredaktor bei SRF Virus und glaubt nicht, dass es so bald ein «Next Big Thing» geben wird: «Ich glaube nicht, dass es in mittelfristiger Zukunft grosse, wichtige Entwicklungen geben wird wie damals Punk oder Hip-Hop. Vielmehr ist es so, dass die verschiedenen Stile miteinander verschmelzen. Vielleicht werden wir künftig weniger von Stilen und Genres sprechen, sondern einfach nur noch von zeitgenössischer Musik.»

Das Ende der Innovation?

Auf ein «Next Big Thing» müssen wir wohl noch einen Moment warten. Doch wer weiss, vielleicht ist der neue Sound ja schon am Entstehen – nur wissen wir noch nichts davon.

Vielleicht tüftelt irgendwo in Tansania ein Junge an einer neuen Schlagzeug-Erfindung herum und spielt danach Beats darauf, die die Gesetze der Rhythmik ausser Kraft setzt. Oder vielleicht experimentiert irgendwo in China eine junge Frau an einem Klang, der so fremd und neu und gut klingt, dass wir nicht mehr genug davon kriegen werden.

Haben wir nicht immer gemeint, alles schon einmal gehört und gesehen zu haben. Bis jemand zwei Hölzer aneinander rieb und Feuer entfachte? Bis jemand das Rad erfand? Bis jemand die Musik unter Strom stellte?

Meistgelesene Artikel