London, im Club Koko,Januar 2019: An der Decke dreht eine riesige Glitzerkugel, unten auf der Bühne moderiert Gilles Peterson die «Worldwide Awards».
«Dieser Anlass ist wie jedes Jahr dazu da, gute Musik zu würdigen, die zu wenig Anerkennung findet», sagt Peterson. Er meint damit Aussenseitermusik: «Eigentlich ist es eine Preisverleihung für ‹seltsamen Jazz›.»
Seltsamer Jazz!? Das kurbelt mein Gedächtnis an. 1989 sass ich an einem sehr lauen Frühlingsabend vor der Kleinen Schanze in Bern.
In der Zeitschrift «Tempo» las ich einen Artikel über einen DJ und Radiomoderator aus London. Dieser Gilles Peterson betreibe das Label «Acid Jazz».
Befallen vom «Acid House»-Fieber
In dem Artikel erzählt Peterson, wie er auf den Namen gekommen ist. Er könne so seinen elektronischen Jazzfunk besser unter die englische Tanzjugend bringen. Die sei nämlich gerade vom sogenannten «Acid House»-Fieber befallen.
«Acid Jazz» war also ein Kunstname, hatte aber Ausstrahlung. Und bald bezeichnete er ein eigenes Genre. In vielen Musikläden gab es bis tief in die Nullerjahre ein so bezeichnetes Fach.
Ein Sound, der Stile, Jahrzehnte und Kontinente verschmolz. Immer mehr Club-DJs suchten ihr Glück dann auch in Bossa Nova, karibischen Rhythmen und im Jazz.
Sie paarten House-Musik mit Funk und Afrobeat mit englischem Soul. Doch: Irgendwann gefror «Acid Jazz» zum Klischee, zur Fahrstuhlmusik.
Der Verkäufer und Trendsetter
Doch die frische Art von Gilles Peterson kam ihm zugute. Seine Begeisterung für Musik war ansteckend, dazu kam sein Verkäufertalent.
Was Peterson mochte, mochten viele andere. Schon als Teenager betrieb Peterson einen Piratensender, später lief seine Musik auf dem Londoner Radio Kiss FM, dann auf BBC Radio 1 und heute immer noch auf BBC Radio 6.
Multi-Kulti Musik
Die coole Botschaft, die Peterson hatte: Schaut her, gute Musik lässt sich an vielen Orten finden. Auf der ganzen Welt. Und es geht mit Feingefühl – ohne anderen Kulturen auf die Füsse zu treten.
Gilles Peterson hat dieses Vielfaltsprinzip nicht erfunden. Im multikulturellen Pop-Empire Grossbritannien gehört es zur musikalischen Erziehung.
Und doch war Petersons Ansatz visionär: Er machte als DJ, Produzent und Labelmacher vor, wie sich internationale Netzwerke spannen liessen. Heute boomt globale Musik, nicht nur in der Nische – daran ist Peterson nicht unschuldig.
Grosse Schweizer Szene
1991 war ich im Lausanner Club Dolce Vita. Die von Gilles Peterson entdeckte Band Galliano spielten. Er selbst stand als DJ an den Plattentellern.
Das Konzert war gut, aber hängen blieb das Bild des schlacksigen Typen mit Mütze, der seine warmen Beats in das dunkle, feuchte Kellerlokal pumpte. In der Schweiz gab es damals eine richtige «Acid Jazz»-Szene: In den 90er-Jahren moderierte Peterson – dessen Vater aus Thalwil ist – auf Couleur 3.
Er war immer wieder am Montreux Jazz Festival zu Gast. Mit seinem Label «Talkin’ Loud» verkaufte er nirgendwo auf der Welt so viele Platten wie in der Deutschschweiz.
Jazz erlebt Revival
Das ist lange her. Aber Gilles Peterson macht heute immer noch das, was er am besten kann: Musik entdecken, Musik teilen.
Seit einiger Zeit ist Jazz wieder hoch im Kurs. In New York, London oder Los Angeles. Das fasziniert ihn. So kommt Peterson immer wieder bei sich selbst an. Unterwegs, auf der ganzen Welt.