Darf man einen Klassiker wie Schuberts «Winterreise» nehmen, ihn bearbeiten, orchestrieren und dabei sogar ein Stück weiter komponieren? Als Hans Zender 1993 seine Bearbeitung vorstellte, führte das zu zahlreichen Diskussionen.
Einige kritisierten, dass er das bei Schubert nur Angedeutete auf plakative Weise ausmale, andere waren gerade von der neu entstandenen Dramatik fasziniert. Jedenfalls wurde diese «komponierte Interpretation», wie Zender es nannte, ein Erfolg, der bis heute anhält.
Später orchestrierte er auch Klavierwerke von Schumann und Beethoven. Auch da liess er die Originale nicht unangetastet, sondern dachte sie auf unorthodoxe, aber hoch originelle Art weiter.
Tausendsassa Zender
Tatsächlich trafen hier die beiden Berufe und Berufungen aufeinander, die diesen so universal gebildeten Musiker ausmachen. Hans Zender, der 1936 in Wiesbaden geboren wurde, ist einer der bekanntesten Komponisten Deutschlands und hat auch eine lange Karriere als Konzert- und Operndirigent hinter sich.
Aus dieser Doppelfunktion entstand auch der Wunsch, die Schubert-Lieder, die ihn zeitlebens beschäftigten, ins Orchester zu übertragen. Dabei schwebte Zender nicht nur ein neues Klangbild vor: Er wollte auch die Distanz hervorheben, die uns heute von Schubert trennt.
Bei den ersten Aufführungen, so sagt er, müssen diese Lieder «eher Schrecken als Wohlgefallen ausgelöst haben». Diese «existentielle Wucht des Originals», die in der Routine des Musikbetriebs längst abgemildert wurde, wollte er nun wieder erlebbar machen.
Die Schwierigkeit der eigenen Kultur
So versucht er immer wieder die Gegensätze erlebbar zu machen. Das ist typisch für Zender. Häufig sucht er den künstlerischen Dialog mit dem Anderen, dem Fremden, sei es mit fernöstlicher Philosophie oder den Indianern.
In seinem dritten Bühnenwerk «Chief Joseph» erzählte er von dem berühmten gleichnamigen Indianerhäuptling. Ihn beschäftigen dabei das Eingeschlossensein in der eigenen Kultur und die Missverständnisse im Kontakt mit der anderen.
Der Philosoph unter den Komponisten
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Zender ist ein Philosoph unter den Komponisten. Sorgsam abwägend, feinsinnig, feinfühlend, mit einer Neigung zu Mystik und Spiritualität, die er als starken Gegensatz zu unserem modernen Leben empfindet. Es müsste doch möglich sein, sich wieder «neu einzuschalten in den zeitlosen, sich ständig erneuernden Strom der religiösen Mystik».
Manche seiner Stücke wirken denn auch sehr meditativ – und doch weiss er genau, dass es damit nicht getan ist: Allzu schnell führt solche spirituelle Abgehobenheit in einen energielosen Intellektualismus: «voll Verachtung für den Körper und das Alltägliche, ohne Lachen und Weinen».
Derbe Gegensätze prallen aufeinander
Konsequenter- und glücklicherweise klingt seine Musik auch nicht trocken. Immer wieder dringt eine Sinnlichkeit und Farbigkeit durch, die ihn auch wieder als erfahrenen und klangliebenden Dirigenten zeigen.
Er lässt dabei auch derbe Seiten hervortreten. Besonders schön erlebbar wurde das in seiner ersten Oper «Stephen Climax» aus den 80er Jahren. In diesem Stück liefen zwei unabhängige Handlungen gleichzeitig ab.
Auf der einen Seite sah man den Säulenheiligen Simeon, der von einer Schar frömmelnder Anhänger umgeben ist; auf der anderen erlebte man, wie Stephen Dedalus, der Held aus «Ulysses» von James Joyce, durch die Dubliner Nacht zieht und schliesslich in einem Bordell landet. So prallten in einem bunten und lebhaften Treiben die Gegensätze aufeinander.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Musik unserer Zeit, 20.11.2016, 20:00 Uhr