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Eine Geigerin beim Musizieren
Legende: Die Musikerinnen und Musiker des STEGEREIF.orchester richten sich an ein Publikum, das sonst nicht Klassik hört. Linnéa Urmersbach

Improvisierte Klassik Ohne Notenblätter, ohne Schuhe – aber mit Erfolg

Johannes Brahms gemischt mit Salsa, Pop und Improvisation, einer Prise Licht und Choreographie – so füllt das Orchester «Stegreif» die Konzertsäle.

Mozart tat es. Brahms tat es. Und all die Meister der Barockzeit sowieso: das Improvisieren. Doch was im Jazz und in der zeitgenössischen Musik heute gang und gäbe ist, muss in der klassischen Musik erst mühsam wiederentdeckt werden – zu schwer wiegt vielerorts die Ehrfurcht vor dem Werk der grossen Komponisten.

Einen kreativen Umgang mit dieser Ehrfurcht pflegt das STEGREIF.orchester aus Berlin. #freebrahms heisst die aktuelle Produktion, die von den gewohnten Ritualen der Klassik-Szene gründlich abweicht.

Dieses Orchester singt und tanzt

Bereits beim Einlass wird das Publikum mit einem warmen Klangteppich empfangen: Auf der Bühne geben Schlagzeuger den Beat vor, irgendwo improvisiert ein Geiger. Alle anderen sind im ganzen Raum verteilt und singen. Und irgendwann formieren sich diese sanften akustischen Wellen zum Beginn der 3. Sinfonie von Johannes Brahms.

Die Musikerinnen und Musiker tragen bequeme Kleidung: weite Hosen oder Röcke, Leggings, Shorts. Die Farben sind aufeinander abgestimmt: orange, erdfarben und schwarz.

Die Füsse sind nackt, wie bei Tänzerinnen und Tänzern. Sie bewegen sich beim Spielen, nutzen den ganzen Raum aus. Je nach Musik rennen sie, tanzen, schreiten.

Ausverkaufte Säle

Es gibt keine Noten, keine Notenständer, keinen Dirigenten. Dennoch spielen alle gemeinsam, atmen gemeinsam, sind ein Klangkörper. Die Musik fliesst organisch von einem Brahms-Motiv zum nächsten, dazwischen entstehen Improvisationen, allein und in der Gruppe.

Das Licht setzt die Choreographie der Musikerinnen und Musiker in Szene – und ganz zum Schluss wird auch das Publikum zum Tanzen auf die Bühne geholt.

Seit drei Jahren gibt es das Orchester. Nahezu sämtliche Konzerte sind ausverkauft, die Veranstalter stehen Schlange. Ein Orchester, das improvisiert – das hat der Klassik-Szene bislang gefehlt.

Musiker posieren in einem Treppenhaus mit ihren Instrumenten.
Legende: Das Orchester ist derzeit mit 30 Musikerinnen und Musikern auf Deutschlandtournee. Iken Keune

Eine riesengrosse Band, die Klassik spielt

Der 25-jährige Hornist Juri de Marco hat das STEGREIF.orchester gegründet: «Ich habe als Jugendlicher eine Band gegründet und mit ihr Choreographien erarbeitet, Songs entwickelt, improvisiert», erinnert er sich.

«Aber mir hat dieser absolute Tiefgang gefehlt, den die klassische Musik haben kann.» Deshalb hat er das STEGREIF.orchester gegründet: eine riesengrosse Band, die Klassik spielt.

Doch wie improvisiert ein ganzes Orchester? «Dazu braucht es eine Struktur», erklärt die Geigerin Anne-Sophie Bereuter: «Die erarbeiten wir von der Sinfonie aus. Wir entscheiden, welche musikalischen Themen im Original erklingen sollen, welche in Arrangements – und wo es Platz gibt für freie Improvisationen».

Nicht nur für Klassikfans

So kennt jede Musikerin und jeder Musiker den Fahrplan durch das ganze Stück – der dann allerdings auswendig gelernt werden muss. Das ist anspruchsvoll bei einer einstündigen Sinfonie.

Ein Mann mit nacktem Oberkörper steht in einem Konzerthaus für klassische Musik.
Legende: Das Orchester zelebriert die Lust am Neuentdecken von Klassikern der Orchestermusik. Moritz Esyot

«Wir wollen die grossen Kompositionen nicht banalisieren», sagt de Marco, «sondern einen Aha-Moment kreieren. Unser Fokus liegt bei dem Publikum, das klassische Musik normalerweise nicht hört. Wenn diese Leute bei Pop-Improvisationen andocken können, dann können wir sie auch mitnehmen in das für sie neue Genre Klassik.»

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Die Zukunft der Klassik

So könnte sie aussehen, die Zukunft der klassischen Musik, die in den Feuilletons stetig über das alternde Publikum klagt. «Wir merken, dass wir eine Debatte angestossen haben: Darf man klassische Musik verändern? Und wenn ja, wie?»

Das ist es, was für Juri de Marco den Erfolg ausmacht: «Denn das bedeutet, dass die Leute endlich darüber sprechen, wie wir mit dem Wert der klassischen Musik in Zukunft umgehen wollen.»

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