SRF: Sie haben ein Album mit griechischen Musikern gemacht – ein Doppelalbum mit Liedern über weisse Wale und das Meer. Jetzt folgt ein Doppelalbum über das ländliche Italien. Mögen Sie Konzeptarbeiten?
Dinge, die mit der Erde zu tun haben, sind nie unmodisch.
Vinicio Capossela: Ja, ich mag Themen. Werke mit Liedern, die – im Gegensatz zu Sammlungen von Liedern – in der gleichen Zeitspanne entstanden sind. Das ist schon eine ganze Weile so.
Das neue Werk «Canzoni della Cupa» ist ein fast folkloristisches Doppel-Album mit 28 Liedern. Die Arbeit daran hat mehr als ein Jahrzehnt gedauert. Warum?
Ich habe 2003 angefangen, Lieder zum Thema zu schreiben. Ich wollte in die Welt meiner Eltern einzutauchen, die Alta Irpinia im Süden Italiens. Das ist eine Gegend, in der die Erde noch heilig ist, mit einem grossen Reichtum an Sagen und alten Liedern.
Ich hatte ein komplettes Album zusammen. Aber wie es halt so geht im Leben, habe ich die Weichen anders gestellt – mit anderen Projekten.
Gleichzeitig war ich nicht in Eile, dieses Album fertigzustellen. Dinge, die mit der Erde zu tun haben, sind nie unmodisch.
Irgendwann hab ich wieder mit der Arbeit wieder angefangen. Jetzt ist es ein Doppelalbum, es hätten aber genauso gut vier Alben werden können. Eigentlich ist diese Arbeit nie beendet. Es gibt noch so viel auszugraben.
Gibt es diese Welt denn noch, die Sie hier beschreiben?
Viel davon ist untergegangen. Das Dorf meines Vaters zum Beispiel ist schon lange aufgegeben worden. Andererseits lebt diese Welt weiter in Erzählungen oder auch in diesen Liedern. Sie sind wie ein Echo jener untergegangenen Welt. Ich mache eigentlich eine spiritistische Arbeit – indem ich eine vergangene Welt wieder aufleben lasse.
«Canzoni della Cupa» ist ein sehr italienisches Album. Dennoch arbeiten Sie auch mit US-amerikanischen Musikern zusammen – Los Lobos, Calexico oder Howie Gelb. Wie kommt das?
Das sind Musiker, die Erfahrungen mit Grenzen haben. Mit geographischen Grenzen. Oder allgemeiner: Die erfahren haben, dass Grenzen trennen.
Es viele gibt Musikstile in vielen Ländern, die die Trennung als Thema haben: der griechische Rebetiko, der argentinische Tango oder der Blues.
Das sind verwandte Stile, wegen dieses Gefühls der Abwesenheit, der Trennung. Mich interessierte die Frage, was der mexikanische Akkordeonist Flaco Jiménez mit einem Lied aus einem süditalienischen Dörfchen macht. Und siehe da, er hat das Gefühl sofort begriffen.
Zwei Hälften, die sich ergänzen, sind mir lieber als Dinge, die eine Gesamtheit erklären.
Die 28 Lieder der «Canzoni della Cupa» haben Sie in zwei Hälften eingeteilt: «Polvere» (Staub) für den Tag und «Ombra» (Schatten) für die Nacht. In Italien haben sie die beiden Hälften getrennt aufgeführt. Wie wird das bei Ihren Auftritten im Ausland sein?
Ich habe mir da eine kleine Verrücktheit erlaubt: zwei verschiedene Bands und Inszenierungen für zwei unterschiedliche Sets von Liedern. Im Sommer haben wir die Staub-Songs aufgeführt, auf Open-Air-Bühnen. Und im Winter dann die Schatten-Songs – im Theater, wo die Bühne ein Wald wird.
Mir gefällt der Dualismus: Zwei Hälften, die sich ergänzen, sind mir lieber als Dinge, die eine Gesamtheit erklären. Eins plus eins gleich eins: Licht und Schatten sind zwei Hälften einer Sache.
Natürlich werde ich die Auftritte im Ausland anders gestalten müssen, schon aus finanziellen Gründen. Es wird keine Best- of-Show werden. Aber wir spielen die Songs aus der Vergangenheit, die ins Konzept passen.
Man kann sich an einen Ihrer letzten Auftritte in der Schweiz erinnern, wo Sie bei jedem Song den Hut wechselten. Was wird es dieses Mal werden?
(Vinicio Capossela nimmt einen Hut von der Wand. Auf dessen Krempe sieht man stilisierte Äste – oder die Wurzeln eines Baums) Ecco!
Das Gespräch führte Eric Facon.
Sendung: Vorabend, SRF 2 Kultur, 10.5.17, 16.00 Uhr