«Improvisation hilft mir auf allen Ebenen», sagt Nicole Johänntgen, Jazzsaxofonistin und Mutter eines zweijährigen Kindes. Als Musikerin kann sie mit zuvor völlig fremden Menschen gute Musik machen. Diese Erfahrung hilft ihr, auch im Alltag auf Fremde zuzugehen. Etwa, wenn sie als Mutter vermitteln muss - zum Beispiel bei brenzligen Erziehungsmassnahmen auf dem Sandhaufen.
Wenn das Verhalten ihres kleinen Sohnes sie überrasche, könne sie heute eher ruhig bleiben als früher, sagt Johänntgen. Denn als Musikerin kennt sie den Umgang mit offenen Situationen zur Genüge. Und kann gelassen sagen: «Jeder Tag ist anders».
Offene Haltung üben
«Es passiert gerade so vieles auf der Welt, das mich extrem überfordert», sagt der Gitarrist Christian Zemp. Er ist darum sehr froh über die Improvisationen in der Musik: «Das hilft mir, bei mir selbst zu bleiben, mich nicht in all dem zu verlieren.»
Impro-Skills sind für Zemp eine Art Selbsthilfe-Werkzeug, das ihm auch abseits der Bühne mehr Präsenz und Gelassenheit ermöglicht. Das Üben beginnt für ihn mitten im täglichen Leben. Er versuche, wenn immer möglich offen zu sein, sagt Zemp. In einen Zustand zu finden, aus dem er jederzeit und ohne Vorbereitung in jede Richtung gehen kann.
Balance zwischen Vorbereitung und Offenheit
Handfeste Anleitungen gibt es in der Improvisation nicht. Geht das überhaupt, Improvisation üben? Ja, sagt die Pianistin Vera Kappeler. Sie büffelt ihre Ideen wie Vokabeln einer Fremdsprache. Sie packt ihren kreativen Rucksack prallvoll mit Einfällen, um dann im entscheidenden Moment spontan loslegen zu können.
Dann allerdings, ohne viel zu denken. Für sie sei die Balance zwischen Vorbereitung und völliger Offenheit entscheidend, sagt Vera Kappeler. «Es braucht ein Bewusstsein, dass Inspiration von überall herkommen kann».
Fehlerkultur als Lebensquelle
Die experimentelle Sängerin Lauren Newton hat in Bezug auf Fehler eine klare Haltung. «Wenn man improvisiert, gibt es kein richtig oder falsch.» Dass Fehler trotzdem geschehen, auch abseits der Bühne, ist auch Newton klar. Aber die Stimmforscherin empfiehlt, nicht lange auf ihnen rumzureiten.
Videogalerie: Musikerinnen und Musiker über Improvisation
«Du kannst nicht ständig bei den Fehlern bleiben, um herauszufinden, was falsch gelaufen ist», sagt Newton: «Viel wichtiger ist es, dir zu verzeihen. Fehler sind eine Chance, uns selbst zu erneuern, zum Positiven hin.» Fehler als Lernprozess und Chance sehen, ist ein zentraler Motor für Newtons Kreativität.
Ständig neu überrascht
Die Improvisation biete Newton auch nach Jahrzehnten auf der Bühne die Möglichkeit, sich zu entwickeln. «Ich lerne immer noch neue Dinge. Meine Stimme überrascht mich ständig. Dies zeigt mir, dass wir unerschöpflich sind», sagt die 70-Jährige.
Lauren Newton lädt dazu ein, Fehler als Lebensquelle zu sehen und uns mit ihnen versöhnen. Diese Haltung kann man auch üben, ohne selbst Musikerin zu sein.