Als Myra Melford Umweltwissenschaften studiert, passiert es. Sie gerät sie in ein Konzert des Free-Jazz-Musikers Leroy Jenkins – und sieht ihr Leben plötzlich klar vor sich. Nicht klassische Pianistin will sie werden, aber Pianistin. Nicht die Umweltwissenschaften möchte sie erforschen – aber den Jazz.
Riesige Spielenergie
Danach geht alles sehr schnell: Myra Melford studiert Musik und entdeckt in sich selbst eine riesige Spielenergie. Sie greift auf Elemente zurück, die sie bei ihrem allerersten Klavierlehrer, einem Boogie-Woogie-Pianisten, gelernt hat.
Und sie trifft Gleichgesinnte: Den Jazz-Geiger Leroy Jenkins, dessen Konzert sie zum Musikmachen inspiriert hat. Anthony Braxton, einer der Silberrücken der freien Improszene. Und viele andere Musiker, die zum Kreis der AACM gehören.
Bald ein fester Teil der Szene
Die AACM, Association for the Advancement of Creative Musicians, ist eine Organisation von Musikern der freien Szene aus dem Grossraum Chicago. Myra Melford ist ziemlich viel jünger als die meisten Musiker der AACM, und als Frau die Ausnahme.
Auf der Bühne aber spielen Alter und Geschlecht keine Rolle mehr, und mit ihrer Neugierde und ihrer explosiven Technik am Klavier ist Myra Melford bald ein fester Teil der Szene. In Chicago – und in New York. Denn dorthin zieht Myra Melford Mitte der 1980er-Jahre, ins Auge des Sturms. Dort findet sie bald zu ihrer ganz eigenen Mischung von Blues und freier Improvisation.
In ihren Bands spielen die Besten der Szene
Diese Mischung von Vertrautem und Neuem zeichnet Myra Melford aus. Auch wenn ihre Musik beim ersten Hinhören sehr wild sein kann, mit vielen Tönen, oft eine geballte Ladung – ihr Publikum vergisst sie nie. Immer wieder kommen vertraute Klänge zum Zuge, immer wieder öffnet Myra Melford eine Hintertür, streckt die Hand aus, und nimmt ihre Zuhörer mit auf die Reise. Ihre Zuhörer – und ihre Mitmusiker.
Myra Melford ist an ihrem Instrument so bei sich, dass sie keine Hemmungen hat, grosse Namen einzuladen. In ihren Bands spielen stets die Allerbesten der Szene – einer wie Dave Douglas zum Beispiel, der Trompeter. Oder der Saxophonist Marty Ehrlich. Myra Melford schreibt interessante Kompositionen und lässt immer viel Freiraum für Improvisation. Das lassen sich auch gestandene Musiker gerne gefallen.
Reise nach Kalkutta
Und was wurde aus der Wissenschaftlerin? Die ist Myra Melford im Grunde ihres Herzens geblieben. Im Alltag mit ihrer Musik, aber auch als Gewinnerin eines Fulbright-Stipendiums, das sie im September 2000 nach Kalkutta führt. Dort studiert Myra Melford die nordindische klassische Musik, und lernt das indische Harmonium kennen. Diese Erfahrung ist so intensiv für sie, dass sie auch nach ihrer Rückkehr zunächst in einem Ashram lebt und arbeitet, in einem klosterähnlichen Meditations-Zentrum nördlich von New York.
Mittlerweile lebt Myra Melford in Berkeley in Kalifornien. Dort teilt sie ihre reichen Erfahrungen auch mit ihren Studentinnen und Studenten. Und packt ein Projekt nach dem anderen an.