Das Wichtigste in Kürze
- Nationalhymnen aus aller Welt klingen ähnlich: nach westeuropäischer Marschmusik.
- Sie transportieren dadurch koloniale Machtverhältnisse und sind überholt, argumentiert ein Musikwissenschaftler.
- Ein Politologe erwidert: Nationalhymnen sind zeitgemäss, weil sie die Werte einer Gesellschaft abbilden.
«In den Nationalhymnen pflanzt sich der koloniale Geist weiter», sagt der Musikwissenschaftler Anton Häfeli bestimmt. Er ist kein Fan von Nationalhymnen – befasst sich aber leidenschaftlich mit dem Kontext, in dem sie entstanden sind.
Der koloniale Geist zeigt sich also in den Melodien. Sehr viele Nationalhymnen aus Südamerika und Afrika klingen genauso westlich wie die Nationalhymnen aus Frankreich oder Grossbritannien.
Dies auch, wenn sie nach der Unabhängigkeit entstanden sind. Jüngstes Beispiel ist die marschartige Hymne der 2011 gegründeten Nation Süd-Sudan.
Zwischen Lobpreis und Kampfansage
Weil Frankreich und Grossbritannien bei der Gründung von Nationalstaaten eine Vorreiterrolle gespielt haben, sind auch ihre Nationalhymnen Prototypen für dieses Genre geworden.
Die meisten Hymnen sind kämpferisch wie die «Marseillaise» oder preisen mit feierlichen Klängen wie «God Save the Queen» Gott oder ein monarchisches Oberhaupt.
Ursprünglich sind diese prototypischen Nationalhymnen entstanden, um im Krieg zu motivieren und zu vereinigen. «Sie waren damals notwendig. Heute nicht mehr», sagt der Musikwissenschaftler Anton Häfeli.
Symbol des Zusammengehörens
Anders sieht das der Politologe Nenad Stojanovic: «Damit eine Demokratie funktioniert, braucht es das Gefühl, dass man zusammengehört.» Dafür brauche es Symbole. Die Nationalhymne sei ein solches Symbol: ein kulturelles, mit einer politischen und gesellschaftlichen Wirkung.
Eine Nationalhymne sei dann zeitgemäss, wenn sie möglichst viele Menschen in einem Land anspreche. «Unabhängig davon, zu welcher Sprachregion oder Konfession jemand gehört», so der ehemalige Tessiner Grossrat Stojanovic.
Und auch unabhängig davon, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, fügt er an. Dafür eigne sich eine griffige Melodie sehr gut.
Balkan-Pop statt Hymnenklang?
Anton Häfeli hingegen findet: «Die Hälfte der Bevölkerung kann nichts mehr anfangen mit diesem Hymnenklang aus dem 19. Jahrhundert.» Er wünscht sich deshalb für die Schweiz – wenn überhaupt – eine Hymne mit populärer Musik.
Mit einem Lachen in der Stimme spricht sich der Musikwissenschaftler für die Balkan-Version des Schweizerpsalms von Šuma Čovjek und Ivica Petrušić aus: «Damit wären wir kosmopolitisch und weltoffen».
Texte sind Stolpersteine
Die Melodie ist das eine, der Text das andere. Zeitgemäss sind Nationalhymnen für Nenad Stojanovic erst, wenn sie die gemeinsamen Werte einer Nation widergeben.
In diese Kategorie fällt etwa die mongolische Nationalhymne:
«Mit allen ehrbaren Nationen der Welt / Stärken wir unsere Beziehungen»
Oder die äthiopische Hymne:
«Für Frieden, Recht und Freiheit des Volkes / In Gleichheit und Liebe sind wir vereint»
Ziemlich unzeitgemäss klingt es, wenn ein italienischer Bubenchor singt:
«Italien hat gerufen / Wir sind bereit zum Tod»
Ebenfalls wenn algerische Mädchen singen:
«Oh Frankreich, die Zeit der Abrechnung ist gekommen / So bereite dich auf unsere Antwort vor»
Diese Hymne ist 1962, kurz nach der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich, entstanden.
«Weitergabe des Feuers»
Seit dem 19. Jahrhundert legt sich eine neue Nation auch sofort eine neue Nationalhymne zu, das hat Tradition. Aber wie schon der Komponist Gustav Mahler sagte: «Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.»
Die Nationalhymnen dieser Welt könnten also regelmässig angepasst werden. Auch wenn es sich nur um ein einziges Wort handelt – wie bei den Österreichern, die 2011 ihre Nationalhymne gendergerecht umgeschrieben haben: Aus «Heimat bist du grosser Söhne» wurde «Heimat grosser Töchter und Söhne» .
Sendungen:
- Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 31.7.17, 8:20 Uhr
- Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 1.8.17, 9:03 Uhr