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#MeToo in der Klassikbranche Wenn Musik mehr berührt als nur die Seele

Kürzlich trat Plácido Domingo im Opernhaus Zürich auf – obwohl ihm mehrere Frauen sexuelle Belästigung vorgeworfen hatten. Wie geht die Klassikwelt mit #MeToo um? Eine Bestandesaufnahme, bei der auch Betroffene zu Wort kommen.

Ein Orchester unter der Leitung des Dirigenten Arturo Toscanini, so ein Jahrzehnte altes Zitat, bestehe aus 100 Musikern und 100 Magengeschwüren. Was eine leise Ahnung von den recht starren Strukturen gibt: hier der mächtige, teils despotische Dirigent, dort die Musikerinnen und Musiker, die sein Verhalten still zu ertragen haben.

Auch wenn sich diese Form von Machtmissbrauch seit Jahren hin zu einem demokratischen Miteinander zu verschieben scheint, bleibt doch etwas erhalten: die sexualisierte Form des Machtmissbrauchs. Repräsentative Zahlen für die Schweiz gibt es nicht. Eine aktuelle Umfrage aus Grossbritannien spricht davon, dass 48% der Musikerinnen und Musiker sexuelle Belästigung erlebt haben. Besonders betroffen sind junge Frauen.

Eine Studie der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main zu deutschen Theatern hat erhoben, dass 50 Prozent aller Künstlerinnen schon einmal mit sexuellen Anzüglichkeiten konfrontiert wurden, wovon 14 Prozent gegen sexuelle Gefälligkeiten Angebote wie Gagenerhöhungen oder Engagements bekamen. In der Musikszene in der Schweiz dürfte es ähnlich aussehen.

Der Blick in die Schweiz

Fälle von sexuellen Übergriffen, die auf ein ähnliches mediales Interesse stossen, wie die prominenten Beispiele Dutoit, Domingo oder Mauser, kennt man in der Schweiz nicht. Dem Schweizerischen Musikerverband sind gar keine Fälle aus der Schweiz bekannt.

Ruft man Musikinstitutionen in der Schweiz an – Opernhäuser, Orchesterbüros, Musikhochschulen – erhält man mehrheitlich zurückhaltende Antworten wie: «So etwas kam bei uns bisher nie vor.» Beziehungsweise: «Es gibt Fälle, aber nur wenige. Oft sind es kleine Sachen.» Aber was heisst «kleine Sachen»? Auch eine weniger schwerwiegende Grenzüberschreitung bleibt eine Grenzüberschreitung.

Bedeutet das, dass es in der Schweizer Klassikbranche keine sexuelle Belästigung gibt? Oder schweigen die Betroffenen? «Letzteres», ist Salva Leutenegger, Geschäftsführerin vom Schweizerischen Bühnenkünstlerverband SBKV, überzeugt.

Betroffene fürchten um ihre Jobs

«Zahlen und Fakten sind schwierig zu ermitteln in der Branche. Seit #MeToo melden sich zwar mehr bei uns, aber es sind immer noch wenige. Ich bin überzeugt, dass viel mehr passiert», sagt Salva Leutenegger. Für Grossbritannien gibt es hingegen Zahlen: 85 Prozent der in der erwähnten Studie erfassten Fälle von sexueller Belästigung wurden nicht gemeldet.

In diesem Jahr betreut der SBKV fünf Fälle von sexueller Belästigung oder sexuellen Übergriffen. Teilweise gab es rechtliche Folgen. Teilweise konnte der Verband «nur» beratend tätig sein, so Leutenegger. «Weil sehr viel Angst dabei ist. Die Betroffenen befürchten schlichtweg, dass sie ihre Jobs verlieren.»

Musikerinnen spielen im Dunkeln.
Legende: Wie gross ist die Dunkelziffer? Dem Schweizerischen Musikerverband sind keine Fälle von sexuellen Übergriffen bekannt. Getty Images / Comstock

Anstatt dass Betroffene organisiert geschützt und unterstützt werden, droht ihnen oft Blossstellung, meint Leutenegger: «Wer seine #MeToo-Erfahrungen öffentlich macht, ist abgestempelt als jemand, die oder der sich nicht wehren konnte, und gilt als Querulant. Das spricht sich in der ganzen Branche rum.»

Zwei Betroffene erzählen

Von Macht und Ohnmacht zeugen auch die Erfahrungen von Susanne Meier und Mira Kim (Namen von der Redaktion geändert).

Susanne Meier ist heute Streicherin in einem grossen Schweizer Sinfonieorchester. Als sie 14 war, begann ihr Geigenlehrer, zu dem sie wöchentlich nach Hause zum Unterricht ging, sie sexuell zu belästigen. Sie hat niemandem etwas erzählt.

«Über die neun Jahre, die ich bei ihm Unterricht hatte, baute er eine emotionale Abhängigkeit auf. Das war ganz klar Manipulation: Er hat mir Geschenke gemacht, mich mit auf Konzerte genommen, mir Gelegenheiten für Auftritte verschafft. Hilfe zu suchen hätte für mich bedeutet, ihn zu verraten. Ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt.»

Die künstlerische Bewunderung, die sie ihrem Lehrer als Kind entgegenbrachte, liess mit der Zeit nach. Aber auch als sie bereits studierte und dann ihre Orchesterstelle antrat, mischte er sich weiterhin in ihr Leben ein, die unerwünschten Berührungen, die sexuellen Avancen wurden zum Ritual: «Als Erwachsene rutschte ich zurück in das gleiche Lähmungsgefühl wie damals als Teenagerin, ich konnte mich einfach nicht wehren.» Vor drei Jahren fand Meier endlich den Mut, den Kontakt abzubrechen. Eine erneute persönliche Begegnung brachte das Fass zum Überlaufen.

«Habe ich irgendwelche Zeichen ausgesendet? »

Mira Kim ist zum Cellostudium aus Korea nach Europa gekommen. Nach dem Studium wollte sie Praxiserfahrung sammeln und war in einem Zeitvertrag in einem Orchester einer Kleinstadt angestellt.

Innerhalb dieser zwei Jahre erlebte sie mehrfache Übergriffe von männlichen Orchestermitgliedern und Gastmusikern, von unerwünschten Berührungen über deplatzierte Sprüche mit sexuellem Inhalt («Heute ist mein Geburtstag, willst du mir nicht einen blasen?») bis hin zu einem Abend, an dem ihr ein Orchesterkollege nach Hause gefolgt ist, obwohl sie mehrfach «Nein» gesagt hatte.

«Es waren meistens Situationen nach Premieren, in denen sich die Männer mir genähert haben. Durch die künstlerische Verausgabung und den Applaus war ihr männliches Ego jeweils besonders gross und im Adrenalinrausch wurden meine Grenzsetzungen nicht respektiert.»

Am Anfang dachte sie, dass sie sich falsch verhalten hatte. «Habe ich irgendwelche Zeichen ausgesendet? War ich zu höflich? Oder ist hier eher Rassismus im Spiel, dieser Stereotyp der unterwürfigen Asiatin, die nicht Nein sagen kann?»

Mira Kim hat sich nach den Vorfällen nicht an den Orchestervorstand gewandt, ganz bewusst: «Ich kannte Geschichten, in denen Frauen Hilfe suchten und dann selbst massive Konsequenzen tragen mussten. Aber ich habe befreundete Musikerinnen vor den Typen gewarnt. So wie ich auch vor gewissen Musikern gewarnt wurde, als ich neu in das Orchester kam.»

Eine Frau hält sich abwehrend die Hände vor das Gesicht
Legende: Unerwünschte Berührungen und Annähreungsversuche: «Was soll ich denn tun, wenn mein ‹Nein› nicht respektiert wird?» fragt Mira Kim. Getty Images / kolderal

Die Machtverhältnisse liegen schief

Es ist eine Art Geheimwissen, das die Frauen untereinander austauschen. Die Männer jedoch, denen die Übergriffe vorgeworfen werden, bewerten diese wahrscheinlich als Lappalie, ihrem Verhalten stellen müssen sie sich oft nicht.

Die Machtverhältnisse in den Orchestern stützen das System. «Kulturbetriebe räumen Intendanten, Direktoren, Regisseuren oder Casting-Directors viel zu viel Macht ein», sagt auch Salva Leutenegger vom SBKV.

Auch Plácido Domingo und Charles Dutoit waren berüchtigt für ihr Verhalten. Doch passiert ist nichts. Auch in Susanne Meiers und Mira Kims Fällen nicht. Gerade wenn Privates und Berufliches so verschwimmt, wie im Einzelunterricht oder bei der Premierenfeier, können Aussenstehende wenig ausrichten. Auch eine Sensibilisierung hätte nichts geändert, sind sie überzeugt. «Die Männer hätten dennoch ihre Wege gefunden», sagt Mira Kim.

Es braucht eine klare Haltung

Wo kann da ein Arbeitgeber überhaupt ansetzen? Auf institutioneller Ebene wird man sich zunehmend der Verantwortung bewusst. Der Schweizerische Bühnenkünstlerverband SBKV sieht seine Verantwortung in der Prävention und hat einen Verhaltenskodex ausgearbeitet.

Andere Häuser wie das Theater Basel oder das Zürcher Opernhaus haben bereits «eine verbindliche Weisung zum Thema sexuelle Belästigung» erlassen. Hierin kommen die beiden Häuser dem Arbeitsgesetz nach und verpflichten sich, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von sexueller Belästigung ist.

Beide Häuser geben an, sexuelle Belästigung werde «unter keinen Umständen toleriert», heisst es auf Anfrage. Es drohten Disziplinarmassnahmen bis hin zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Interne und externe Vertrauenspersonen (Frauen und Männer) können betroffene Personen beraten und unterstützen, Anonymität wird garantiert, Kaderleute werden regelmässig geschult. Bisher eingegangene Meldungen: Einzelne, die «meist niederschwellig und intern gelöst werden konnten», wie das Theater Basel mitteilt.

Auch die Musikhochschulen sind gefragt

Sämtliche der 35 Hochschulen, die sich im Verein Swissuniversities zusammenschliessen, führen eine Fachstelle für Diversität oder Gleichstellung. Offen bleibt aber – gerade in einem Studienbereich, in dem Einzelunterricht zum Ausbildungskonzept gehört –, wie diese Bestrebungen kontrolliert werden können.

Ein Notenständer.
Legende: Arbeiten ohne Angst: Verschiedene Institutionen haben sich dazu verpflichtet, ein Arbeitsklima zu schaffen, in dem sexuelle Belästigung keinen Platz hat. Getty Images / Hill Street Studios

Im der Zürcher Hochschule der Künste im Toni-Areal wurden bewusst grosse Glasflächen in sämtliche Unterrichts- und Übungsräume gebaut – gegenseitige Kontrolle ist besser als Vertrauen. Es liegen Flyer aus und eine ans Rektorat angebundene Fachstelle kümmert sich um Anfragen und Meldungen. Reichen solche Massnahmen tatsächlich aus, um die Strukturen aufzubrechen, die sexuelle Übergriffe ermöglichen?

Coaching als mögliche Lösung

Neben einer Anlaufstelle gibt es an der Hochschule Luzern seit Jahren den obligatorischen Kompaktkurs «Nähe und Distanz im Instrumentalunterricht» für alle Bachelor-Studierenden. Er soll sexueller Belästigung vorbeugen. Ein neues Programm für Dozierende ergänzt das Angebot. Doch bräuchte es ein solches Coaching nicht an viel höherer Stelle in der Macht- und Hierarchieordnung der Klassikbranche?

Dass bisher keine Meldungen eingegangen sind, führt Blanka Šiška, Leiterin der Fachstelle Diversity der Hochschule Luzern, darauf zurück, dass der Umgang mit dem Thema sexuelle Übergriffe so offen am Campus gelebt wird. Wie hoch die Dunkelziffer ist, ist auch hier nicht bekannt.

Der Weg ist noch weit

«Solche Massnahmen zeigen: das Bewusstsein greift allmählich», sagt Salva Leutenegger. Man nehme #MeToo ernst. Dennoch müsse man die Strukturen verändern, die einen Machtmissbrauch erst ermöglichen: «Unsere Systeme greifen, wenn etwas passiert ist und es gemeldet wird. Aber wir müssen verhindern, dass es überhaupt so weit kommt.»

Eine Geige auf einem Tisch.
Legende: Das Thema sexuelle Belästigung ist auch in der Klassikbranche auf den Tisch gebracht. Aber wie kann man sie verhindern? Getty Images / Sebastian Condrea

Auch nach drei Jahren beschäftigen Mira Kim die Vorfälle im Orchester noch stark. Nach den zwei Jahren Berufserfahrung hat sie beschlossen, nicht Orchestermusikerin zu werden und ein weiteres Studium aufzunehmen. Die sexuellen Belästigungen, die sie erlebt hat, sind ein wichtiger Grund für ihre Entscheidung. Sie könne sich nicht vorstellen mit einem Orchester, in dem Übergriffe zum Alltag gehören, auf Tournee zu gehen.

Heute redet sie über ihre Erfahrungen, #MeToo hat ihr Kraft gegeben. «Ich wusste dadurch, dass ich nicht alleine bin.» SRF Kultur hat sie von den Übergriffen erzählt, weil sie eine klare Botschaft an die Musikerinnen senden will, denen Ähnliches passiert ist: «Denkt bloss nicht, es sei eure Schuld!»

3 Argumente gegen #MeToo und 3 Antworten

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#MeToo hat zu einem allmählichen Bewusstseinswandel beigetragen. Es gibt eine erhöhte Aufmerksamkeit dafür, dass Sexismus, sexuelle Belästigung und Missbrauch nicht als selbstverständlich hingenommen werden dürfen. Gleichzeitig wird oft Kritk laut. Hier ein Blick auf drei häufig genannte Argumente gegen #MeToo in der Klassikbranche:

  • Warum haben die Frauen sich nicht gewehrt?

… aus Machtlosigkeit, aus Überrumpelung, Scham und Angst, es sich mit einem einflussreichen Menschen zu verscherzen und somit die eigene Karriere zu gefährden. Denn die Betroffenen befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Beschuldigten. Hinzu kommt, dass ein «Nein» häufig ignoriert wird (wie im Fall Domingos oder Mausers, die an Gegenseitigkeit geglaubt hätten).

  • Warum erst jetzt?

Zeugt es von Unglaubwürdigkeit, dass einige Opfer lange geschwiegen haben? Manche fühlen sich erst durch die #MeToo-Bewegung ermutigt, aus der Scham herauszutreten, andere sind nicht mehr im Geschäft und somit nicht mehr gezwungen, durch gute Verbindungen an Rollenangebote heranzukommen und können aus dem Machtgefüge ausbrechen.

  • Ist der Angeklagte nicht das eigentliche Opfer?

Nike Wagner, Intendantin des Bonner Beethovenfests, sprach etwa von einer «böswilligen Intrige» gegen den brillanten Musiker Siegfried Mauser. In derartigen Solidaritätsbekundungen zu den vermeintlichen Tätern wird den anklagenden Frauen Rache aus scheinbarer Zurückweisung oder gezielte Verführung unterstellt, um die eigene Karriere anzuschieben. Ist der Mann hier Opfer der verführerischen Frau? Fakt ist, dass Opfer sexueller Gewalt keine Schuld dafür tragen, dass Täter ihre Grenzen überschreiten. Jeder Mensch hat jederzeit das Recht, «Nein» zu sagen.

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