Für die einen war James Levine eine schillernde Figur der amerikanischen Klassikwelt, für die anderen ein sexuell übergriffiger Machtmensch. Nach seinem Tod stehen Fans erneut vor der Frage, inwieweit sie die Musik des Dirigenten noch feiern können.
Superstar oder nicht – Levines Einfluss auf die amerikanischen Klassikwelt war enorm. Nun ist «Amerikas Top-Maestro», wie das Magazin «Time» ihn einmal nannte, im Alter von 77 Jahren gestorben.
Langer Aufstieg – tiefer Fall
Nach seinem langen hohen Aufstieg war Levine zum Abschluss seiner Karriere tief gefallen: Die Anschuldigungen von mindestens neun Männern wegen sexueller Übergriffe liessen den gefeierten Musiker tief stürzen. Die Metropolitan Opera, deren Weltruhm Levine als Chefdirigent zementiert hatte, warf ihn raus.
«Ich bin unsicher, ob die Met Levines Schande überleben kann», schrieb das «New York Magazine». Das Opernhaus habe Levines Verhalten vermutlich jahrelang stillschweigend hingenommen oder vertuscht, merkte eine Autorin der «Washington Post» an. Levine hatte die Vorwürfe immer entschieden zurückgewiesen. Nach seinem Rauswurf überzogen sich das Opernhaus und der Dirigent gegenseitig mit Klagen.
Erschreckende Vorwürfe
All das schien fast undenkbar, als der gelockte Klaviervirtuose aus Ohio 1953 mit dem Cincinnati Orchestra sein Debüt als Dirigent feierte. Der ungarische Dirigent George Szell holte ihn zum Cleveland Orchestra, wo er von 1965 bis 1972 auch am Cleveland Institute of Music lehrte. Aus dieser Zeit und bis 1999 reichen die Missbrauchsvorwürfe mehrerer Männer.
Die Details, die der «Boston Globe» nach Gesprächen mit mehr als 20 Studenten und Ex-Kollegen Levines aufdeckte, waren erschreckend. Wie in einem Kult soll Levine seine als «Leviniten» bekannten Verehrer in Cleveland um sich versammelt und ihnen vorgeschrieben haben, «was sie lesen, wie sie anziehen, was sie essen, wann sie schlafen – sogar, wen sie lieben». Bei ihm zu Hause soll er sie strengen musikalischen Tests unterzogen und sie zum Sex gedrängt haben.
Zum Jubiläum acht Stunden dirigiert
Rund 40 Jahre war die Met im Herzen Manhattans das künstlerische Zuhause des Dirigenten. Seine offene, vereinnahmende Art schimmerte auch bei Proben mit dem Orchester durch. Vor Publikum dirigierte er dann mit der Effizienz eines Managers.
Zum 25. Jubiläum seiner ersten Met-Aufführung feierte ihn das Opernhaus mit einer Fernsehgala – es sagten so viele Sänger zu, dass Levine acht Stunden dirigierte. Sein Repertoire umfasste Bach und Haydn, aber auch unbekanntere Namen wie den französisch-griechischen Komponisten Iannis Xenakis.
Er stand für Klassik aus den USA
Selbst Klassikfans der alten Garde kamen um ihn nicht herum. Bei den Salzburger Festspielen dirigierte Levine Mozart, in Bayreuth machte er sich als Wagner-Kenner einen Namen. Mit ausgedehnten Konzerttourneen festigte er den Namen der Met in Zeiten, als die Amerikaner zwar für Pop oder Jazz, aber seltener für grandiose Klassik bekannt waren.
Seine Arbeit bei der Met sah er als Vollzeit-Job, wenngleich er 1999 bis 2004 zugleich Chefdirigent der Münchner Philharmoniker war. Bei der Met dirigierte Levine mehr als 2500 Aufführungen von 85 Opern. Nur gelegentlich trat er parallel als Pianist auf.
Gesundheitliche Beschwerden – Levine dirigierte zuletzt im Rollstuhl mit Hilfe zweier Assistenten – kamen in seinen letzten Lebensjahren als Belastung hinzu. Sein letzter Auftritt an der Met war im Dezember 2017 – 46 Jahre nach seinem Debüt dort.