Vielleicht kann man es so beschreiben: Die Tessiner Musiklandschaft besteht aus einzelnen Inseln, die autonome Gebiete sind. Hier eine Musikerin in Bellinzona, um die sich ein Grüppchen bildet, dort ein Komponist in Chiasso.
Weil die Städte teuer sind, leben viele Musikerinnen und Musiker in den Tälern – für einen regelmässigen Austausch sind die Entfernungen weit. Ohne Zentrum ist eine Szene kaum zu etablieren. Oft genug also sitzen Tessiner Musikerinnen und Komponisten im Zug: auf dem Weg zu ihrer Uraufführung in Basel, ihrem Konzert in Mailand oder ihrer CD-Produktion in Berlin.
Hartes Pflaster für eine Musikszene
Schwierige Bedingungen also für Nischenphänomene wie die experimentelle oder improvisierte Musik. «Alles was hier geschieht, müssen wir selber auf die Beine stellen», sagt der Trompeter Guy Bettini. Weil er in seiner Region etwas bewegen wollte, hat er das Panelle 10 in Locarno gegründet – ein Ort zum Proben, für Konzerte und ein geschützter Raum für die improvisierte Musik. «Wir haben damit im Tessin ein Fenster aufgemacht für einen neuen Ort des Hörens», sagt Guy Bettini.
Andere Musikerinnen und Musiker funktionieren Bahnhöfe oder Fabriken zu Konzertsälen um und organisieren Zwischennutzungen. Räume finden ist das eine, das Publikum anlocken das andere. «Die Leute, die unser Publikum wären, sind zum Studieren weggegangen und dann geblieben», sagt der Komponist Nadir Vassena. Es brauche Geduld, bis Musik jenseits des Mainstreams im Tessin Gehör findet.
Das LAC – Fluch oder Segen für die Nische?
Mit der Eröffnung des LAC Lugano Arte e Cultura im September 2015 hat sich die Musiklandschaft im Tessin verändert – nun gibt es zwischen den Inseln einen Leuchtturm. Im kleinen Saal des LAC hat auch die zeitgenössische Musik Platz, auch von lokalen Komponistinnen und Komponist wie Nadir Vassena.
Der Cellist und Musikjournalist Zeno Gabaglio sieht vor allem Potenzial in diesem musikalischen Zentrum. «Ich würde mir allerdings wünschen, dass sich das LAC musikalisch noch weiter öffnet.» Der Trompeter Guy Bettini ist skeptisch: «Ich befürchte, dass dieser Riesenapparat in Zukunft die alternativen Nischen zerdrücken wird.»
Mehr Mut zur eigenen Identität
Was braucht es, damit sich die kleinen Inseln gegenüber dem grossen Leuchtturm behaupten können? Zeno Gabaglio, Präsident der Musikkommission des Kantons Tessin, wünscht sich mehr Originalität der Musikerinnen und Musiker: «Sie sollen den Mut haben, sich auch in unbekannte Gewässer zu wagen und in ihren Produktionen die eigene Identität auszuleben.»
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Der Komponist Nadir Vassena fordert eine kritische Instanz: «Gegenüber Projekten aus der Deutschschweiz und dem Ausland sind die Medien und das Publikum oft kritisch. Das Eigene bewerten sie reflexartig als gut, ohne genau hinzuhören.»
Mehr Freiheit als in der Grossstadt
Dass im Tessin die Strukturen für eine Musikszene fehlen, muss nicht nur ein Manko sein, sagt Zeno Gabaglio: «Zwar muss man hier für seine Sache kämpfen und ist manchmal sehr alleine. Gleichzeitig hat man hier eine grosse künstlerische Freiheit, weil es keine Dogmen gibt wie in einer Grossstadtszene.» Diese Freiheit hört man Gabaglios Trio Niton an: eine dynamische Soundflut, die zwischen den Genres Noise, Elektro und Jazz schillert.
Der Trompeter Guy Bettini schätzt die Konzentriertheit, mit der er im Tessin arbeiten kann. Die 1990er-Jahre hat er in Berlin verbracht. Den schnellen Puls der Metropole im Wandel und Clubphänomene wie Drum’n’Bass haben sich in seinen Improvisationen widergespiegelt. Heute, zurück im Tessin, hat er musikalisch zu sich selbst gefunden: Nun verzichtet er auf Elektronik und sucht in seinem Spiel den natürlichen Atem. Vielleicht ist das Tessin noch nicht der Ort, an dem Musik passiert und weite Wellen schlägt. Vielleicht ist es der Ort, an dem gute Musik entsteht.