Billie Holiday singt «Strange Fruit». Zum ersten Mal. Sie singt von den Bäumen des Südens. Seltsame Früchte hängen da. Blut sei auf Blättern und Wurzeln. Und dann kommt es:
«Black Body swinging in the Southern Breeze.»
Vor dem geistigen Auge des Publikums baumeln Tote. Im Wind der Südstaaten. Kann es das geben? Lynchjustiz in einem Jazzsong? Im Café Society bewegt sich nichts und niemand mehr. In diesem Moment sei die amerikanische Gegenwart durch die offene Tür auf die Bühne gekommen, wird später geschrieben.
Man kann damals, 1939, «über vieles nicht reden. Und erst recht nicht singen», wird Billie Holiday später sagen. Aber sie tut es in diesem Moment. Was ist geschehen?
Picknick unterm Galgen
Neun Jahre vorher. 7. August 1930. Ein kleines Kaff namens Marion in Indiana. Drei Männer sollen einen Weissen ermordet und seine Frau vergewaltigt haben. Drei «Nigger» werden verhaftet. Einer ist 16.
Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Ein Mob stürmt das Büro des Sheriffs mit Äxten und Vorschlaghämmern. Die beiden Erwachsenen werden herausgeholt. Sie beteuern ihre Unschuld und werden auf dem Dorfplatz aufgehängt.
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Der Dorffotograf Lawrence Beitler macht ein Foto. Man sieht einen Platz, bevölkert mit Männern, Frauen, Kindern. Manche machen ein abendliches Picknick. Andere posieren vor den Toten und lassen sich fotografieren. Das ist damals üblich.
Die Fotos sind für das Familienalbum oder werden als Postkarte verschickt. Lawrence Beitler macht an diesem Abend das Geschäft seines Lebens: Er steht wochenlang im Labor und verkauft Abzüge für 50 Cent. Es wird über Jahre das meistverkaufte Foto in Amerika sein.
Die Zeit des Terrors
Der Mob holt später auch den 16-jährigen James Cameron. Der hat die Schlinge schon um den Hals, als jemand auf einem Autodach stehend ruft: «Der ist unschuldig.» Cameron schreibt später: «Die Stimme hat wie ein Engel geklungen.» Wie durch ein Wunder kommt er davon.
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1982 erscheint sein Buch «A Time of Terror». Das Wort Terror beschreibt diese Epoche. Zwischen 1889 und 1940 werden über 5000 Menschen afrikanischer Abstammung ermordet, aufgehängt, erschlagen, auf Scheiterhaufen verbrannt. Männer, Frauen, Kinder. Sündenböcke. Manchmal gibt es noch nicht einmal einen Vorwand. Ausser der Hautfarbe und Langeweile.
Die Lynchmorde in Marion, Indiana, treiben einen jüdischen Lehrer um: Abel Meeropol. Der unterrichtet in New York Englisch und Literatur. 1937 schreibt er den Text von «Strange Fruit». Zwei Jahre lang findet er niemanden, der den Text vertonen will. Er macht es selber. Der Song gelangt zu Holiday. Die will ihn singen.
Die «schwarze Marseillaise»
Und sie tut es an diesem Tag im März 1939 im einzigen Club in New York, in dem Schwarze und Weisse gemeinsam verkehren.
Samuel Grafton schreibt in der «Post»: «Wenn die Wut der Ausgebeuteten jemals auf dem Höhepunkt sein wird, dann hat sie ab jetzt ihre Marseillaise.»
Der Gründer von Atlantic Records, Ahmed Ertegun, beschreibt die Wirkung rückblickend so: «Das war eine Kriegserklärung und der Beginn der Bürgerrechtsbewegung.»
Ein Song wie ein Dokument
Holiday singt «Strange Fruit» wie ein Dokument: «Die aufgequollenen Augen, der zitternde Mund, der Geruch von Magnolien, süss und frisch und der plötzliche Duft brennenden Fleisches.»
Sie singt Schreckensbild für Bild, Buchstabe für Buchstabe: «Eine Frucht für die Krähen, für den Regen, den Wind...» Mit ihrer Nicht-Interpretation, dem vielleicht schwersten, was ein Interpret leisten kann, macht sie die Zuhörer zu Zeugen. Sie stehen unter dem Baum, auf diesem Dorfplatz in Marion, im August 1930, an einem Ort, den Gott verlassen hat.
Schweissgebadet und blutüberströmt
Ein Kritiker schreibt, der Song zeichne Holiday für den Rest ihres Lebens. Jahre später wird sich das bewahrheiten. Sie singt «Strange Fruit» 1948 in der Carnegie Hall. Vor Nervosität hat sie sich mit einer Hutnadel gestochen, mit der sie wie immer eine weisse Gardenie in ihrem Haar befestigt.
Dann die letzte Zeile:
«Here is a strange and bitter crop» , eine seltsame bittere Ernte.
Schweissgebadet, blutüberströmt steht sie da.
Epilog
1939 schreibt das Time Magazine, der Song sei unerträgliche Propaganda.
1999 schreibt das Time Magazine: «The Song of the Century.»
Dazwischen – Geschichte.