Einer Musikerin mit ihrem Profil locker und unbefangen begegnen, ist das überhaupt möglich? Die Frage bohrt im Hinterkopf, bevor ich zu den Proberäumen im dritten Stock des KKL Luzern hochsteige.
Einschüchternde Brillanz
Es schieben sich Bilder, die ich im Netz gesehen habe, vors Auge. Barbara Hannigans fast übermenschliche Leistungen als Lulu, selbstvergessen die ganzen vier Stunden in qualvoll geschnürten Ballettschuhen, entblösst, wild, diese Stimme, die von samtig gefährlich bis zum plagenden Schrei jedes Register beherrscht.
Die Dirigentin im pompösen Abendkleid, die sich unversehens zum Publikum dreht und ihre Stimme als Soprandiva erhebt. Sie schüchtert ein mit ihrer brillanten Vielseitigkeit. Doch es kommt alles noch heftiger.
Hinauf zu Barbara Hannigan
Eigentlich bin ich an diesem Augustnachmittag unterwegs als Produzent unserer Sendung «Sternstunde Musik» mit dem Eröffnungskonzert am Lucerne Festival und suche Moderations-Locations. Da laufe ich Barbara Seiler und ihrem Team in die Arme, sie drehen für den Dokumentarfilm, den unsere Redaktion produziert, Arbeitstitel «Creative Animal – Barbara Hannigan».
«Komm doch am Nachmittag hallo sagen, wir drehen im dritten Stock.» Und dann tu ich das wirklich, eben, ich steige hoch, um als Produzent des Films Barbara und Barbara zu treffen (und die Kamera-Frauen Christine Munz und Helena Vagnières und Tonmann Ruedi Guyer).
Kann man ihr unbefangen begegnen?
Da sitzt die blonde Wilde aus Nova Scotia, Kanada, vor dem Spiegel, ist dabei, eine schwarze Pony-Perücke überzuziehen. Eine Fetisch-Korsage der engen Sorte trägt sie bereits, Netzstrümpfe, die hohen Lackschnürstiefel liegen neben ihr auf dem Boden.
«Oh, you’re the producer, pleased to meet you.» Von wegen unbefangen begegnen … Der Moment ist von einer überfallartigen Plötzlichkeit, dass mir erst hinterher auffällt, wie wenig peinlich das alles war. Wie locker Barbara Hannigan damit umgeht. Und wie fokussiert sie auf die momentane Mission ist: Ein Porträt von ganz nah ermöglichen. Zu zeigen, wie sie sich auf die Performance von György Ligetis «Mysteries of the macabre» vorbereitet. Im Konzert wird sie damit das Publikum buchstäblich von den Sitzen reissen.
Nein, es geht nicht
Ein paar Tage später treffe ich sie wieder und versichere ihr, es sei nicht Voyeurismus gewesen, der mich ausgerechnet in diesem Moment in ihre Garderobe getrieben habe, sondern reiner Zufall. Und sie lacht: «This isn’t any crazier than anything in my crazy, crazy life.»
Nein, dieser Künstlerin ist nicht unbefangen zu begegnen. Und sie wird in ihrer unerschrockenen, beseelten, virtuosen Hingabe an ihre Kunst noch grösser, je näher man ihr kommt. Barbara Seilers Film «I’m a creative animal – Barbara Hannigan» ermöglicht genau dies.
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«Artiste étoile» war Barbara Hannigan am Lucerne Festival 2014. Der Ausdruck war kaum je besser am Platz. Ihr «Late Night»-Konzert, das mit einer stehenden Ovation und Sir Simon Rattles Verbeugung vor der Bühne endet, kommentiert sie auf Twitter: «Twinkle twinkle little stars». Ob sie damit die Sterne glitzern oder zwinkern lässt? Bei Barbara Hannigan sollte man immer mit allem rechnen.