Es ist ein Traum für viele Orchestermusizierende: Nie mehr bei schummriger Beleuchtung Noten entziffern. Nie mehr aus zerfledderten Partituren spielen. Nie mehr die Anweisungen des Dirigenten selbst eintragen müssen. Nie mehr alte Fingersätze ausradieren. Nie mehr an einer dramatischen Stelle umblättern müssen.
Positive Signale aus Brüssel
Der Einsatz von Tablets könnte da Abhilfe schaffen. Zusätzlich zum Verschwinden der kleinen Ärgernisse sollen aufgeräumte Bildschirme auf den Notenpulten auch finanzielle Vorteile bringen.
Um die 25'000 Euro Ersparnis pro Jahr für ein Sinfonieorchester könnten es sein: wegen den wegfallenden Papier- und Druckkosten oder der erleichterten Distribution. Diesen Betrag haben die Brüsseler Philharmoniker errechnet, als sie Ende 2012 als erstes Profi-Orchester einen Testlauf mit digitalen Noten starteten.
Sie spielten drei Konzerte ab Tablets. Technisch funktionierte damals alles einwandfrei, sagt der Intendant Gunther Broucke. Allerdings war das System insgesamt noch nicht genug entwickelt.
Wunsch und Wirklichkeit
Ein Vorteil bei Spielen ab Tablet ist die Hintergrundbeleuchtung der Geräte. Ihretwegen wäre das leidige Thema der ungenügenden Beleuchtung endgültig passé.
Auf einem anderen Notenblatt steht, ob das bläuliche Bildschirm-Licht auf Dauer angenehm oder gesund für die Augen ist. Als Nachteil bei diesem Testlauf erwies sich die Grösse der Tablets. Sie waren 2012 noch nicht im A4-Format erhältlich. Und damit schlicht zu klein.
Ein noch grösseres Problem war damals die unausgereifte Software. Attraktiv wären digitale Partituren nämlich vor allem dann, wenn sie mehr könnten als gedruckte. Wenn sich Anmerkungen von Dirigent oder Stimmführer automatisch in die anderen Orchesterstimmen übertragen liessen. Wenn sich die Tablets über ein Netzwerk synchronisierten. Das war damals noch Wunschdenken.
Die nächste Entwicklungsstufe
2013 hob das Leuven Alumni Orchestra ein neues digitales Notensystem aus der Taufe, das genau das kann. Mitglied in diesem belgischen Laienorchesters ist auch Jan Rosseel. Er spielt Posaune und entwickelt die Software «Scora» .
Rosseel profitiert dabei von seinen eigenen Erfahrungen und den Feedbacks seiner Kolleginnen und Kollegen. Alle spielen von Tablets im A4-Format; der Dirigent hat ein etwa doppelt so grosses Tablet vor sich liegen. Mittlerweile ist die Software so weit, dass einfache Anmerkungen mit einem Fingertipp in die Partitur eingefügt werden können; die Anwendung mit einem digitalen Stift ist angedacht. Die Notizen werden automatisch in die anderen Stimmen übertragen.
Auch das Umblättern der Seiten geschieht mit «Scora» synchron. Sobald die Dirigentin mit dem Finger eine Seite weiter wischt , rollen simultan auch die Notenzeilen der Musizierenden im Orchester nach oben. Damit das funktioniert, müssen die Noten allerdings erst mühsam in die Software eingespeist werden.
Profiorchester warten ab
Damit der Gebrauch von Tablets für Profiorchester einen Mehrwert bieten könnte, müsste zuerst ein in jeder Hinsicht ausgereiftes System verfügbar sein. Und auch die Verlage müssten aktiv werden und das gesamte Konzert- und Opern-Repertoire in einer interaktiven digitalen Form anbieten.
Und schliesslich müsste eruiert werden, ob einige Dutzend Tablets inklusive Support-, Wartungs- und Stromkosten tatsächlich auch finanzielle Vorteile bringen.