Es ist der 9. Oktober 1989. In Leipzig, damals noch Teil der DDR, marschieren 70'000 Menschen auf der Strasse. Es ist die Zeit der Montagsumzüge, der friedlichen Demonstrationen für mehr Mitspracherechte und Demokratie, die den Untergang der DDR einleiten sollen. An jenem Abend spitzt sich die Lage dramatisch zu, zum ersten Mal sind derart viele unzufriedene Menschen auf der Strasse. Und obschon die Staatsmacht der DDR von einer «Konterrevolution» spricht und Militär und Polizei bereitstellt, kommt es nicht zum Gewaltausbruch. Vielmehr wird unvorhergesehen ein Dialog möglich.
Wer damals zur Entspannung der Situation mit beiträgt, ist Kurt Masur. Masur, der Dirigent des Leipziger Gewandhausorchesters, verliest mehrmals am Stadt-Radio einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit, den er zusammen mit weiteren Persönlichkeiten, darunter SED-Funktionäre, geschrieben hat.
Politiker wider Willen
In der Folge lädt Kurt Masur im Gewandhaus zum Gespräch an den runden Tisch. Er wird zum «Politiker wider Willen», wie er es später ausgedrückt hat. Ja noch mehr: Masur wird zur Symbolfigur für eine andere DDR und für die gewaltfreie Revolution. Später wollten Bürger den Dirigenten gar als Staatspräsidenten der DDR sehen, noch später als Kandidaten für das Amt des deutschen Bundespräsidenten. Soweit ist es nicht gekommen.
Mit Politik hatte Masur schon früher zu tun gehabt. 26 Jahre lang, seit 1970, war der 1927 in Schlesien geborene Musiker Chefdirigent in Leipzig. Charakterlich war er ein dynamischer Macher. Unter seinen Händen hat das Gewandhausorchester Weltruhm erreicht und wurde so zum kulturellen Prestigeobjekt der SED-Führung. Mit Erich Honecker war Kurt Masur per Du, die Reisen in den «kapitalistischen Westen» musste er sich trotzdem erstreiten. Doch Masur war zäh: Über 900 Mal dirigierte er das Leipziger Orchester im Ausland und machte seinen dunklen und warmen Klang bekannt. Und für den Neubau des Gewandhauses 1981 hatte er bei Honecker persönlich interveniert.
Von Leipzig nach New York, London und Paris
Masurs Ende in Leipzig kam 1996, vorzeitig und überschattet von Konflikten. Etwas überraschend wurde er anschliessend nach New York berufen, wo er die dortigen Philharmoniker in kurzer Zeit zu einem der «Big Five» in Amerika machte, mit Hilfe von Disziplin und Autorität und auch mit einem bewussten Bezug zur Tradition. Ab 2000 war Masur Musikdirektor des London Philharmonic Orchestra und ab 2002 des Orchestre National de France.
2012 machte der Dirigent seine Parkinson-Erkrankung öffentlich. Auf seine Arbeit mochte er trotzdem nicht verzichten, auch wenn er sich bei einem Auftritt in Paris die Schulter brach und später in Tel Aviv bei einem Sturz die Hüfte. Zuletzt hatte er vom Rollstuhl aus dirigiert. «Dirigenten setzen sich nicht zur Ruhe, Dirigenten sterben», hatte Kurt Masur einmal in einem Interview erklärt.