Auf der Suche nach einem ruhigen Ort für sich und seine Familie kommt der Geiger Yehudi Menuhin 1954 nach Gstaad. Zwei Jahre später bekommt er den Auftrag, die Region mit einem Festival zu beleben – oder eher: wiederzubeleben. Denn die Anfänge des heutigen Menuhin Festivals gehen weiter zurück.
Musik in Zeiten der Krise
Anfang 1942: In Gstaad versammeln sich Hoteldirektor, Gemeindepräsident, Gerichtspräsident und die Vertreter der kantonalen Regierung.
Die Papierberge vor ihnen sagen nichts Gutes: Im Vorjahr wurden fünftausend Bette weniger gebucht. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs sind auch im Saanenland zu spüren.
Ernst Scherz, Hoteldirektor des Palace, weiss Rat: Er kennt den Dirigenten Hermann Scherchen, der sich anbietet, zusammen mit dem Winterthurer Stadtorchester für zwei Wochen ins Saanenland zu kommen, Konzerte zu geben, und tägliche Vorträge über klassische Musik zu halten.
Für jene Zeit eine ziemlich neue und ungewöhnliche Idee, vielleicht sogar bezeichnend für die Anfänge der heute nicht mehr wegzudenkenden Musikvermittlung.
Eine Folge von Konzerten und Vorträgen bedeutet wohl einen mehrtägigen – und mehrnächtigen – Aufenthalt der Gäste. Das gefällt dem Gremium.
Freunde guter Musik
Im Sommer 1942 lockt der erste Vortrag «Leben und Werk von Mozart». In einer an das Publikum gerichteten Mitteilung steht: «Die Veranstaltung hat so viel Interessantes, Wertvolles und Schönes geboten, dass der Besuch der nachfolgenden Vorträge jedem Freunde guter Musik – und wer ist es nicht – wärmstens empfohlen wird.»
Der erste Musiksommer ist ein Erfolg. Die Anzahl vergebener Betten steigt wieder merklich an. Das Angebot wird ausgebaut, die Konzerte auf insgesamt 10 erhöht. Die Konzerte werden nicht nur rege von den Touristen besucht, sondern auch von den Einheimischen.
Im Saanenland hatte nämlich der Pfarrer Otto Lauterburg schon lange und regelmässig seine «Feierstunden mit Musik» abgehalten.
Durch diese kostenlose Vorträge über klassische Musik ist eine musikaffine, einheimische Bevölkerung herangewachsen – und so denkt man bei den Eintrittspreisen des Musiksommers auch an die Dorfbevölkerung.
Ein Franken fünfundsiebzig bis fünf Franken fünfundsiebzig für ein Konzert in der Kirche Saanen, drei Franken fünfzig bis neun Franken fünfundsiebzig für ein Konzert im Festsaal des Hotel Palace. Und wer fünfzig Franken zahlen möchte, bekommt ein ganzes Abo.
Publikum sei überfordert
Im Januar 1945 trifft sich das Gremium und beschliesst, sich von Hermann Scherchen und seiner Arbeit zu trennen. Zu anstrengend, zu überladen seien seine Vorträge gewesen, das Publikum sei damit überfordert.
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Überhaupt will man nicht mehr Musikgeschichte betreiben, das Konzert, die Sinfonie oder das Leben Beethovens beleuchten, sondern neu die Strahlkraft mit grossen Musikerpersönlichkeiten erhöhen.
Der rumänische Pianist und Komponist Dinu Lipatti, der sich 1943 in Genf niedergelassen hatte, wird geladen, ebenso der polnische Dirigent Paul Kletzky, der 1939 in die Schweiz geflohen war. Unter den Schweizer Musikern finden sich Paul Baumgartner, Paul Sacher und Edwin Fischer.
Das grosse Aushängeschild im Sommer 1945 ist aber der spanische Cellist Pablo Casals. Mit ihm kommen die Organisatoren dann allerdings an ihre finanziellen Grenzen: 10‘000 Franken verlangt Casals als Honorar, mit 8‘000 muss er sich zufrieden geben.
Düstere Bilanz
Nach dieser Neuausrichtung sieht die Bilanz düster aus: Das Defizit beträgt 20‘000 Franken – und weit und breit kein Kanton, keine Eidgenossenschaft, die dafür aufkommen will. Den Herren des Gremiums bleibt nichts anderes übrig, als den Musiksommer 1946 einzustellen.
Es wird nochmals zehn Jahre dauern, bis der Festivalgedanke wieder auflebt. Yehudi Menuhin holt sich dann seinen grossen Freundeskreis nach Gstaad. Die Idee der «Sommerkurse mit Beteiligung eines ganzen Orchesters» gehört jedoch allemal der Vergangenheit an. Genauso die Konzertkarte für einen Franken fünfundsiebzig.