Robert Kolinsky, Sie engagieren sich seit Jahrzehnten für das Werk von Bohuslav Martinu: War Ihre erste Begegnung mit seiner Musik derart prägend?
Robert Kolinsky: Ja, tatsächlich! Meine Familie stammt aus Prag, ich selbst bin in Solothurn geboren, aber wuchs zunächst als Staatenloser auf, weil meine Eltern aus der damaligen Tschechoslowakei flüchteten. Als ich in den 1980er-Jahren als Jugendlicher mit meinem Schweizer Pass über die geschlossene Grenze erstmals nach Prag reisen konnte, war das schon ein zutiefst bewegender Moment.
Entdeckten Sie in Prag die Musik von Bohuslav Martinu?
Damals besuchte ich in Prag viele Konzerte und war eigentlich schon ziemlich voll von Eindrücken. Dann ging ich aber noch an ein Konzert des Sinfonieorchesters Prag unter Jiří Bělohlávek – und hörte Martinus 6. Sinfonie. Das war ein Erlebnis, das mich wirklich erschütterte. Solch intensive Musikmomente sind mir in meinem Leben nur zwei-, dreimal passiert.
Dann hat diese 6. Sinfonie Ihr Interesse für den ganzen Martinu geebnet? Martinu hat ja Hunderte von Werken komponiert.
Überhaupt nicht. Damals konnte ich nur mit dieser 6. Sinfonie etwas anfangen, die sehr expressiv und emotional ist. Zu anderen Werken hatte ich nicht sofort diesen Zugang. Erst später beschäftigte ich mich intensiver mit Martinus Musik. 1995 stolperte ich in Frenkendorf zufällig über ein kleines Martinu-Festival. Danach wollte ich unbedingt, dass es nicht bei einem einmaligen Festival bleibt und habe mich daraufhin an der Organisation beteiligt.
Das war also die Geburtsstunde der Martinu Festtage. Trotzdem müssen Sie mir erklären: Martinu ist ein tschechischer Komponist, der seine letzten Lebensjahre in der Nähe von Basel verbracht hat. Ist er wirklich ein so wichtiger Komponist, dass er bei uns ein eigenes Festival braucht?
Bohuslav Martinu ist einer der ganz grossen Komponisten des 20. Jahrhunderts mit starkem Bezug zur Schweiz, besonders zu Basel. Hier ein Festival durchzuführen, ist naheliegend.
Für viele Klassik-Liebhaber ist Martinu ein Komponist, der in Paris den damals modernen Stil des Neoklassizismus aufgriff – wie Dutzende andere auch.
Ist das so? Zumindest diejenigen, die sich mit seinem Werk etwas näher beschäftigt haben, machen auf mich nicht diesen Eindruck. Abgesehen von Namen wie Sol Gabetta, Frank Peter Zimmermann oder Opernsuperstar Rolando Villazon, der in dieser Saison in Berlin die Mammutrolle in Martinus Oper «Juliette» übernimmt. Dirigieren wird dabei kein geringerer als Daniel Barenboim. Fakt ist, dass auch Martinus wahre Grösse seine Zeit brauchte, um erkannt zu werden. Ähnlich wie bei Mahler, Janáček oder Bach.
Worin besteht denn Martinus musikalische Persönlichkeit?
Phänomenal ist bei ihm schon seine Arbeitsweise: Martinu konnte rasch qualitativ hochstehende Werke ohne jegliche Korrekturen aufs Papier bringen, wie Mozart auch. Was Martinu ausmacht, sind aber nicht bestimmte Themen oder Ausdruckscharaktere. Er bringt von Beginn weg alles, worauf er dann sein Werk aufbaut. Aus Motiven, musikalischen Zellen erschafft er herrlich Erhabenes. Und es kann noch so komplex sein, beim Hören bleibt es fassbar. «In jedem seiner Stücke öffnet sich einmal der Himmel», wie Martinus Ehefrau dazu treffend meinte.