Wie viele österreichische Jazzer haben Sie früh Erfahrungen mit Volksmusik gemacht. Bei Ihnen war es «Heurigenmusik» mit der Blockflöte in der Familienkapelle. Was ist davon übriggeblieben?
Harry Sokal: Ja. Mein Vater spielte Ziehharmonika, die Mutter sang, mein Bruder schüttelte die Maracas und ich blies Blockflöte. Wir spielten Schlagermusik, das wollten die Leute beim «Heurigen» hören. Heurigen, das ist da, wo man sich trifft, wo man isst, trinkt und zusammensitzt. Ich war zwar gut auf der Blockflöte, leider aber zu leise. Als ich etwa neun war schlug mein Vater deshalb vor, ich solle es mit der Klarinette versuchen. Ich bekam also eine Klarinette, und ein paar Tage später habe ich damit schon alles mitgespielt. Übriggeblieben aus dieser Zeit ist die grosse Liebe für die Musik: Das Herz hat sich mir damals wie eine Blume geöffnet und hat zu blühen begonnen – und blüht bis heute.
Wie sind Sie vom Heurigen zum Jazz gekommen? Gab es so etwas wie ein Schlüsselerlebnis?
Da war wahrscheinlich Peter Wolf für verantwortlich. Peter Wolf, der später in Amerika ein erfolgreicher Produzent wurde, mit Frank Zappa spielte und den Titelsong von «Pretty Woman» schrieb, wohnte gleich schräg gegenüber. Der war nur zwei Jahre älter, aber schon richtig gut. Er hatte zusammen mit Karl Ratzer eine Band, die hiess «Gipsy Love». Und ich war der Wurstsemmel-Holer der Band. Und da hab ich gemerkt, dass üben was bringt; ich wurde besser, und konnte bald mitspielen. Zum richtigen Musiker geworden bin ich auf den Strassen Europas, wo ich als Tramper mit Rucksack und Saxophon umhergereist bin und überall gespielt habe.
Schon mit Mitte zwanzig spielten Sie beim grossen Art Farmer.
Die Familie von Schlagzeuger Joris Dudli wohnte damals in einem grossen Haus mit einem Flügel, da haben wir immer gejammt. Und eines Tages ist Fritz Pauer gekommen um mitzuspielen, zusammen mit Art Farmer. Ich habe da glaube ich furchtbar schlecht gespielt, aber Art Farmer kam nachher zu mir und sagte: «Harry, if you want, you can come to my apartment and we practice a little bit.» Und ich hab gesagt: «Yes, I come!» Und dann hab ich mit ihm geübt, und nach einem Jahr war ich in seiner Band. 22 Jahre gehörte ich dazu, Art war mein musikalischer Ziehvater.
Sie gehören zu den Gründungsmitgliedern dessen, was damals noch «Wiener Art Orchester» hiess. Was bedeutete diese Band für Sie?
Das war ein grosses Erlebnis, ein Zeitgefühl, auch eine unglaubliche Zusammengehörigkeit. Die Leute haben einen ja als improvisierenden Musiker nicht so ernst genommen damals, doch zusammen waren wir stark. Das war eine «Big Party».
Sie waren fast vom ersten bis zum letzten Ton dabei. Was bedeutet das «Vienna Art Orchestra» im Rückblick für Sie?
Eine grosse Erfahrung und ein wichtiger Teil meiner musikalischen Entwicklung. Denn Mathias Rüegg schrieb seine Stücke den Solisten auf den Leib. Und manchmal schrieb er auch Dinge für einen, von denen er dachte, dass man das spielen könnte, ohne dass man es selber wusste. Da beginnst Du zu üben, so was bringt Dich weiter. Die persönliche Entwicklung verlief gemeinsam mit dem Orchester.
Sie haben immer wieder mit Trios aufgenommen. Ohne Harmonieinstrument: eine ziemlich herausfordernde Besetzung. Wie fühlen Sie sich darin?
Man geniesst eine unglaubliche Freiheit in jeder Beziehung. Dadurch wird das Erlebnisfeld grösser; da kann ich meinen musikalischen Gedanken ungebremst freien Lauf lassen und mich dabei selbst überraschen. Und der Bass und das Schlagzeug folgen mir. Und dann ist ein Trio einfacher und mit weniger Aufwand zu organisieren, es hat also auch praktische Gründe.
Wenn Sie Ihr Traumtrio zusammenstellen könnten: Wer wären Ihre Kollegen?
(Denkt nach.) Jimmy Garrison am Bass und Elvin Jones am Schlagzeug, die Rhythmusgruppe des klassischen John Coltrane Quartetts.
Wenn ich Sie auf der Bühne sehe, bekomme ich von Ihnen den Eindruck eines Bühnentiers. Stimmen Sie mir zu?
Ja. Ich freu mich immer darauf auf die Bühne zu steigen. Auf der anderen Seite bin ich manchmal auch nervös, frage mich, ob ich gut genug vorbereitet bin, ob das Programm richtig gestaltet ist, ob ich die richtigen Saxophonblätter dabeihabe. Aber wenn’s dann einmal läuft, ist es nur noch aufregend und gut.
Sie sind ein Musiker, der sich mit Lust in jedes musikalische Abenteuer stürzt. Auf welches Abenteuer haben Sie noch Lust?
Eigentlich nur dies: viel zu spielen. Das ist es, was wir Musiker wollen. Wir wollen eine Blume wachsen sehen, wir wollen Wasser und Sonne dazugeben, und wir hoffen, dass auch andere diese Blume giessen. Und dass die Leute dann kommen und sie anschauen und sagen: «Ah, das ist eine schöne Blume!» Dann wächst und gedeiht sie.