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Musik Der Mythos Knabenstimme

Knabenchöre sind deutlich erfolgreicher als Mädchen- und gemischte Chöre. Allein am Klang ihrer engelsgleichen Stimmen liegt das aber nicht.

Es ist relativ klar, wo Männer und Frauen im Chor ihren Platz haben: Die Herren singen Bässe und Tenöre, die Damen Alt und Sopran. Bei Kindern unter zwölf Jahren aber, sind die Stimmlagen von Knaben und Mädchen ungefähr die gleichen. Trotzdem kann man eine Jungen- von einer Mädchenstimme unterscheiden.

Die Unterschiede sind gering, aber hörbar

Dies hat die Leipziger Musikwissenschaftlerin Ann-Christine Mecke in Hörexperimenten nachgewiesen: «Bei sechs bis sieben von zehn Hörbeispielen ist das Geschlecht am Gesang erkennbar. Das ist zwar nicht viel, aber kaum durch Zufallstreffer zu erklären.»

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Die Unterschiede zwischen den beiden Stimmen sind sehr subtil und schwer zu beschreiben. Mecke interessiert sich in ihrer Forschung auch eher für die Gründe des unterschiedlichen Klangs: einen gewissen Einfuss haben anatomische Unterschiede wie die Kehlkopfgrösse.

Eine grössere Rolle spielt aber, wie die Stimme auf ein bestimmtes Klangideal hin trainiert wird. Beim Knabenchor ist es der engelsgleiche Klang, den Musikerinnen, Komponisten und Zuhörerinnen bis heute beschwören. Die Überhöhung mit einem transzendenten Begriff wie «engelsgleich» kommt aber vor allem daher, dass ein Grossteil des geistlichen Repertoires Knabenchören vorbehalten ist. Denn jahrhundertelang war es Frauen verboten, in der Kirche zu singen.

Etablierte Talentschmieden

Wegen des Privilegs, geistliche Musik aufführen zu dürfen, haben Knabenchöre auch eine viel längere Tradition als Mädchen- und gemischte Chöre. Der Thomanerchor in Leipzig ist über 800 Jahre alt und konnte sich in dieser Zeit zu einer prestigeträchtigen Institution herausbilden.

Heute werden die Knaben durch gezielte Talentsuche im Kindergarten entdeckt, in Vorklassen ausgebildet und von professioneller Stimmbildung begleitet. Sie wohnen im Internat und das tägliche Singen und die wöchentlichen Konzerte sind fester Bestandteil des Alltags. Bei diesen Ausbildungsstrukturen erstaunt die hohe Qualität des Chores kaum.

Vergleichbare Einrichtungen gibt es für Mädchen- und gemischte Chöre nicht. Das ist an sich ungerecht, denn eine Mädchenstimme hat das gleiche Potenzial und kann ähnlich wie die eines Knaben geprägt werden, sagt Ann-Christine Mecke: «Wenn Mädchen im Knabenchor mitsingen würden und von Anfang an die gleich Ausbildung bekämen, würde sich der Chorklang wahrscheinlich nur subtil verändern.» Der engelsgleiche Ton des puren Knabenchores ist also ein Mythos: Er ist nicht gott- oder naturgegeben, sondern anerzogen.

Schutzraum im Stimmbruch

Manche Pädagoginnen und Pädagogen verteidigen den Knabenchor aber aus ganz anderen Gründen: er kann auch ein Schutzraum sein. An der Roundtablediskussion «Singende Jungs» im Rahmen des Europäischen Jugenchorfestivals Basel zeigte sich: Jungen haben Hemmungen mit Mädchen zu singen und bleiben im Chor am liebsten unter sich. Besonders in der Zeit des Stimmbruchs. In ihren Ohren tönt ihre Stimme unangenehm und fehlerhaft, was die Knaben oft als Versagen interpretieren.

Der ehemalige Sängerknabe der Knabenkantorei Basel, Tobias Stückelberger, erzählt: «Es wäre ziemlich peinlich gewesen, in der Zeit des Stimmbruchs vor Mädchen zu singen. Deswegen war ich froh, in einem Chor ausschliesslich für Knaben gewesen zu sein.»

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Männermangel im gemischten Chor

In gemischten Chören ist die Zeit des Stimmbruchs die kritische Phase, in der die Knaben die Chöre verlassen. Im gemischten Chor sind sie in der Minderheit: Gerade mal jeder fünfte Sänger ist ein Junge.

Unterschiede fallen bei so einer ungleichen Verteilung besonders auf. Umso mehr kann sich in den Köpfen der Jungs das gesellschaftlich definierte Klischee durchsetzen, singen sei uncool und mädchenhaft.

Dafür, dass Knabenchöre erfolgreicher sind als Mädchen- und gemischte Chöre, gibt es neben den Klangidealen, der Tradition und den Ausbildungsstrukturen eine weitere mögliche Erklärung: Auch Chöre spiegeln gesellschaftliche Geschlechterhierarchien, in denen Qualität nach wie vor «männlich» besetzt ist. Und so zeichnet sich ein ähnliches Bild wie bei Köchen oder Coiffeuren: zwar gelten diese Berufe in der Basis als «typisch weiblich», in der Spitzenklasse geben aber vor allem Männer den Ton an.

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