Kleine Sätze können grosse Sprengkraft haben. Als Joachim W. Hartnack 1977 in seinem Buch «Grosse Geiger unserer Zeit» prophezeite, dass das Vibrato die Jahrtausendwende nicht überleben würde, erklärten ihn viele für verrückt. Ein Spiel ohne «Wackelfinger», der bei den Streichern Schwankungen in den Tonhöhen erzeugt? Das war damals ein Tabu. Denn es war die Hochzeit des Dauervibratos. Zwischen 1950 und 1990 markierte es mehrheitlich den Massstab jedweder Interpretation. Und heute?
Dauervibrato? Nein, danke
Das Vibrato hat überlebt, und das ist auch gut so. Aber: Sein dauerhafter Gebrauch wird in weiten Teilen der Klassikwelt abgelehnt. Was im 20. Jahrhundert im Zuge der Romantisierung zur Mode und zum Standard avancierte, gilt heute als überholt, selbst in grossen Sinfonieorchestern. Stattdessen wird die historische Aufführungspraxis, sogenannte «Originalklänge», wieder genutzt und nicht mehr belächelt. Das gilt auch für das Spiel ohne oder mit dosiertem Vibrato, was ein Verdienst von Roger Norrington ist.
Zwar war er nicht der einzige Originalklang-Pionier, niemand aber hat das Dauervibrato derart in Frage gestellt wie der Brite, der derzeit beim Zürcher Kammerorchester wirkt. Rückblick auf die 1960er: Mit dem Londoner Schütz-Chor wagt sich Norrington auf das Terrain des Originalklangs, um in den 1970er-Jahren eigene Spezialensembles zu gründen – das London Baroque Ensemble und die London Classical Players. Bald beackert er auch die Romantik – von Beethoven und Schumann über Berlioz, Wagner und Bruckner bis zu Mahler, Smetana oder Elgar.
Zurück zum Originalklang
Das war kühn, ein regelrechter Affront. Und es war ungeheuer faszinierend, wie zahlreiche Aufnahmen beim Label EMI belegen. Dass sich heute ein Originalklang-Ensemble wie Anima Eterna von Jos van Immerseel bis in die Moderne vorwagt, oder Thomas Hengelbrock 2013 den «Parsifal» Wagners historisch hinterfragt, wäre ohne das frühzeitige Engagement Norringtons undenkbar – so unterschiedlich die Ansätze auch sind. Norrington, ein Tür- und Ohrenöffner. Schon als er noch bei den London Classical Players wirkte, hat er zugleich mit konventionellen grossen Sinfonieorchestern gearbeitet um sie mit dem Originalklang zu konfrontieren.
Der Orchesterflüsterer
Sendungen zum Thema
Wie erfolgreich das sein kann, stellte er seit 1998 beim Radio-Sinfonieorchester in Stuttgart unter Beweis, wo er einen historisch informierten «Stuttgart Sound» entwickelte – trotz mancher Widerstände. Norrington, der Orchesterflüsterer. Dabei war es im Grunde nicht neu, was er und seine Weggefährten ins rechte Licht rückten. Bei Bach und Händel konnten sie sich auf Quantz stützen, für die Wiener Klassiker auf Mozarts Vater Leopold. Spohr half bei Beethoven, Pierre Baillot bei Berlioz und Joseph Joachim bei Brahms. Sie alle empfanden in ihren Schriften den dauerhaften Wackelfinger als stillos.
Und Wagner? In seinen Partituren hat er das Vibrato ganz genau notiert. So hat Norrington auch mit vielen Klischees gehörig aufgeräumt, wie nicht zuletzt sein Stuttgarter Bruckner zeigt. Im Vibrato-bewussten Spiel klingt manches ähnlich wie bei den Wiener Philharmonikern unter Hans Knappertsbusch in den 1950er-Jahren. Da soll noch einer vom «Wiener Klang» oder «typischen Wagner-Ton» sprechen. Glückwunsch, Maestro Norrington!