Anu Tali ist eine quirlige Person. Sie mag Menschen, sagt sie von sich. Und ihre offene Art ist nicht nur im Gespräch, sondern auch in den Proben spürbar. Anu Tali hat den Dreh raus. Sie weiss, wie sie Musikerinnen und Musiker für sich gewinnt, auch wenn sie sie erst seit kurzem kennt.
Vieles passiert im Kleinen
Kürzlich hat sie beim Zürcher Kammerorchester als Gastdirigentin Halt gemacht und Musik zweier estnischer Komponisten mitgebracht: Von Arvo Pärt, dem bekanntesten Musiker des Landes, und von Tõnu Kõrvits. Die 4. Sinfonie von Pärt, ein Stück von 2009 mit dem Untertitel «Los Angeles», mag zwar einfach klingen mit ihrem langsamen Tempo und den gross gespannten Melodiebögen, aber sie habe es in sich, sagt Anu Tali.
Es sei schwierig, diese Musik zu proben, weil für diese Langsamkeit höchste Konzentration erforderlich ist. Die liegenden Klangflächen der Streicher bewegen sich nur wenig, ab und zu strukturiert durch den Schlag eines Glöckchens und das Zupfen der Harfe. Da passiert nicht nichts, sondern vieles im Kleinen. Und es braucht einen grossen Atem.
Dramatische Musik mit lebhafter Dirigentin
Und wie passt diese in sich gekehrte und bisweilen auch dunkel-dramatische Musik zu dieser lebhaften Dirigentin? Anu Tali erklärt es so: Die Musik Estlands sei generell eher dunkel im Ton – «wie das Wetter in Estland». Die Esten seien sich auch andere Zeitdimensionen gewohnt: Der Sonnenaufgang und Sonnenuntergang dauere bei ihnen einiges länger als im Süden.
Und auch sie sei eine Estin, einfach ein etwas untypisches Beispiel: Weil sie gelernt habe, im Laufe der Zeit und im Kontakt mit der Welt draussen ihre melancholisch-dunkle Ader für sich zu behalten.