Paul Hindemith hat es getan – mit dem Barock – und Stravinski hat es getan – mit der Klassik: Musik früherer Epochen imitieren. Noch wichtiger als in der klassischen Musik sind die Prinzipien der Retrospektive in der Popmusik, vor allem in der jüngeren.
Seit den Nullerjahren scheinen sich die Referenzen an die Vergangenheit nahezu zu überschlagen. Der Journalist Simon Reynolds hat dieses Phänomen beobachtet und ihm auch gleich ein Manifest geschrieben: «Retromania. Pop culture‘s addiction to its own past.» Eine seiner Thesen: Unsere heutige Verganenheits-Besessenheit hängt mit der radikal vereinfachten Zugänglichkeit zur Musik zusammen. Über YouTube, Spotify und ITunes liegen uns mit einem Mausklick die letzten Dekaden der Musikgeschichte zu Füssen.
Retro steckt im Detail
Über YouTube haben sich auch Alice Francis durch die Zwanzigerjahre gestöbert und beliefern nun weltweit die Clubs mit tanzbarem Electroswing. Für den Produzenten Mr. Goldielocks bedeutet dieser Blick zurück alles andere als das Ende der Innovation im Pop: «Ich denke, dass der menschliche Geist nicht in der Lage ist irgendetwas eigenes zu schaffen. Man kann sich ja auch keine Farbe vorstellen, die man noch nie gesehen hat. Alles was man macht und tut ist eine Kombination aus etwas anderem.»
Die Hingabe an das Dagewesene reicht nicht nur bei den Swing-Rhythmen und Melodien bis ins Detail. Auch der Stil stimmt: die Wasserwelle der Sängerin Alice Francis aka Miss Flapperty und ihr Fransenkleid sitzen perfekt, sie leistet vorbildliche Charleston-Beinarbeit und singt durch ein Kompressormikrophon, damit es nach «alt» tönt.
Die goldenen Zwanziger im digitalen Zeitalter
Von den goldenen Zwanzigern als Zeit des Aufbruchs ist die Kölnerin mit Wurzeln in Rumänien und Tansania fasziniert: «Es war eine sehr bewegte Zeit, allein schon weil sich das Frauenbild verändert hat. Frauen haben sich die Röcke abgeschnitten, kurze Haare getragen und geraucht. Das hat dazu beigetragen, dass ich heute das tun und lassen kann, was ich möchte.»
An den Stanser Musiktagen warnt sie ihr Publikum gleich vor, dass hier keine musikalische Kostümparty gefeiert wird: «Welcome to the 20ies. But not only that, welcome to the 2020ies». Und damit ist klar: Das 21. Jahrhundert will hier niemand negieren. Alice Francis huldigt zwar dem Swing, aber genauso Missy Elliott, Beyoncé und Katy Perry. Ihr dichter Pop ist durch und durch elektronisch: von den fetten Bässen über den Vocoder-Backround-Gesang bis zur E-Gitarre. Und auch die Bläser kommen nicht von einer Big Band, sondern per Knopfdruck vom bunt leuchtenden Sampler von Mr. Goldielocks.
Kitty, Daisy & Lewis
Die Londoner Geschwister Kitty, Daisy & Lewis haben da ein anderes Klangideal: Ihre bluesigen und rock‘n‘rolligen Songs und Coversongs spielen sie auf Vintage-Instrumenten und singen im Fünfzigerjahre-Stil. Diese Art zu Musizieren hat ihnen kein Manager oder Produzent empfohlen, sie haben es von klein auf von ihren Eltern gelernt. Trotzdem wirkt ihr Konzert wie perfekt inszenierter Retro.
Die 24-jährige Daisy hält das für die Projektion des Publikums: «Unsere Musik entsteht im Heute und reicht musikalisch über mehrere Dekaden. Aber die Leute stecken uns immer in die Fünfzigerjahre-Schublade, weil es wohl die musikalischen Elemente sind, die sich am meisten von den heutigen Hörgewohnheiten unterscheiden.» Vielleicht ist es gerade diese Kombination aus vertraut (hier die eigene Popgeschichte) und exotisch (da länger her), die Retro heute attraktiv macht. Liebenswürdig wird die Referenz auf damals dadurch, dass eine gewisse Verspieltheit und ein Augenzwinkern immer mit von der Partie sind – und, dass die Vergangenheit aufgewertet wird.
Für Mr. Goldielock von Alice Francis regiert ein ähnliches musikalisches Geschichtsbild: «Ich versuche das Früher positiv zu sehen und die Dinge, die mir gefallen zu sammeln, zu verstehen und einzubauen. Retro ist für mich schlicht und einfach die Liebe zum Vergangenen.» Alice Francis, Kitty, Daisy & Lewis und auch andere Bands an den Stanser Musiktagen zeigen: Das Nebeneinander von verschiedenen Zeiten ist in der Popmusik an der Tagesordnung – und macht ziemlich viel Spass.