Anna Magdalena: die ergebene Frau, die des genialen Gatten Musik mit eifriger Feder ins Reine schrieb – mit diesem Bild blieb die Kirche im Dorf. Wie sehr die Verehrung Bachs sakrale Züge angenommen hatte, erlebte der australische Musiker und Spurensucher Martin Jarvis. Seine These: Anna Magdalena hat wesentlichen Anteil an Bachs Werk, einzelne Stücke soll sie sogar allein verfasst haben. Damit erntete er Entrüstung. Der Film «Written by Mrs Bach» zeigt Jarvis‘ hartnäckige Jagd nach Indizien und Belegen.
Bachs Frau war eine hochbegabte Sopranistin
Mit ins Boot holte er kluge Köpfe aus der Musikwelt wie die englische Komponistin Sally Beamish. Sie ist nach anfänglicher Skepsis von Mrs Bachs Komponieren überzeugt. Oder die forensische Schrift-Spürnase Heidi Harralson aus den USA, die sich nach Kurt Cobains Abschiedsnotiz erneut über die Handschrift eines epochalen Musikers beugte. Ihr Befund: Anna Magdalenas Autorschaft steht bei einigen Werken zweifelsfrei fest.
Fakt ist: Bachs zweite Frau war eine hochbegabte Sopranistin, besass eine solide musikalische Ausbildung. Zu ihrer Zeit waren vertiefte Kenntnisse Teil des musikalischen Handwerks. So auch die Fähigkeit, über teilweise gesetzte Musikstücke zu improvisieren und damit die geschriebene Musik ständig weiter zu entwickeln.
Ein Tabubruch
«Im Haushalt Bach wurde regelrecht durch Musik kommuniziert», sagt die Basler Musikologin Christine Fischer. Für die Gender-Spezialistin und Ko-Präsidentin des Forums Diversität steht fest, dass die gut ausgebildete Anna Magdalena in diesem Dialog musikalisch etwas zu sagen hatte und dies auch tat.
Wenn Martin Jarvis behauptet, Anna Magdalena sei in Wahrheit die Komponistin der berühmten Cello-Suiten, sorgt er für rote Köpfe. Doch warum grenzt nur schon der Zweifel an Bachs ungeteilter Meisterschaft an einen Tabubruch?
Keine Frage: Die liebgewonnene Idee vom gigantischen Musikhirn Bach bewirkte Denkverbote. Dass der barocke Meister gemeinhin als Genie gilt, trug dazu bei, dass heutige Vorstellungen vom Entstehen der Musik kaum der Realität zu Bachs Zeit entsprechen. Denn die Krone des Genies erhielt der Thomaskantor erst Jahrzehnte nach seinem Tod aufgesetzt. Nämlich zum Zeitpunkt seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert, als die Idee vom Genie in Mode gekommen war.
Das Ansehen Bachs wird nicht beschädigt
«Der hochbegabte männliche Komponist, der losgelöst von seinem gesellschaftlichen Umfeld, oder gar gegen gesellschaftliche Widerstände seine Werke schreibt, das ist ein Bild, das man nicht auf Bach übertragen kann», sagt Musikologin Christine Fischer.
Sie ist aber überzeugt, dass ein historisch präzises Bild von den Abläufen im Bach-Haushalt das Ansehen des grossen Bach keineswegs beschädigt. Oder anders gesagt: Die längst fällige Anerkennung der Komponistin Anna Magdalena Bach wirft kaum einen Schatten auf das überlebensgrosse Denkmal ihres Ehegatten.