Er hat einmal die amerikanischen TV-Serien «Dallas» und «Denver Clan» verglichen. Im «Spiegel» war das, für den er ein paar Jahre arbeitete. Er urteilte ein bisschen freihändig. «Dallas» gewann, aber irgendwie klang es nach Marx, was er schrieb. Nach Karl Marx, nicht nach Groucho – und es klang ziemlich gut und ziemlich cool damals.
Diedrich Diederichsen wird schnell Kult in dieser Zeit. Er arbeitet für eine bekannte Werbefirma und schreibt für die wichtigen Blätter über allerlei Themen der populären Kultur: TV-Serien, Film, Kunst. Vor allem aber schreibt er über Popmusik – und er wird eine Instanz, eine stilprägende Figur.
Ein Mann der Thesen
Die Musikzeitschriften «Sounds» und «Spex» sind das Forum. Hier ist Platz für Leitartikel und zahllose Musikkritiken, die Einfluss gewinnen, weit über die Leser und Fans der Musik hinaus. Ein bisschen ist er jetzt selbst ein Star.
Diederichsens Methode: Setze die These! Das macht den Erfolg. Setze Thesen zur Popmusik, zu einzelnen Musikern, Bands und ganzen Stilrichtungen. Setze Thesen zur Musik, egal wie steil oder abwegig und hebe sie in die Öffentlichkeit. Schreibe prononciert und provokant. Urteile im Schwarz-Weiss-Modus und am besten definitiv. «1500 Schallplatten» sind sein Thema in den 80er-Jahren. Ein Buch wird später daraus.
Theorien von Lacan bis Adorno
Früh fällt seine Erfahrungsarmut auf. Man hört und sieht oft kaum, wovon er spricht. Dafür gibt es einen eigenen, gut geschriebenen Diederichsen-Sound und ganz viel Theorie. Genauer: Variable Modelle aus dem Theoriebaukasten von Lacan bis Adorno. Das macht Eindruck, trifft aber nur nebenbei die Musik, von der er redet.
Diedrich Diederichsen wird Professor. Hochschulen in Deutschland und den USA vergeben Lehraufträge. Der Zug zum Diktat ist nun kaum mehr zu übersehen. Er ist Jahrgang 1957 und lehrt erst an der Merz Akademie Stuttgart und seit 2006 an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Zehn Jahre hat der Autor an seinem neuen Buch «Über Pop-Musik» gearbeitet. Theoriebildung ist jetzt amtlich sein Metier. Der Dozent Diederichsen doziert. Aber was er verloren hat, ist das Talent zum Schreiben, zum Erzählen, zum Erzählen von den Erzählungen der Popmusik.
Schlüsselerlebnis mit 14 Jahren
Johnny Winter, der Albino-Bluesrocker, gibt das erste Pop-Konzert, das der Autor besucht. Da ist er 14. Es wird prägend, ein Schlüsselerlebnis, aber man erfährt nicht warum. «Pop-Musik» ohne Musik, das ist das Buch. Beim Schreiben habe er immer Musik gehört, sagt Diederichsen. Seltsam. Man spürt es kaum. Dafür kann man sehr viel lernen, über Performances, Bilder, Texte und den Fan als solchen. Über «Totems und Tabubrüche» und über die «Signale des Pop». Um das ganze Drumherum.
Es gibt die «heroischen Jahre der Pop-Musik»: Musik, die «kleine Embleme des Aufbruchs» produziert, die zum Widerstand animiert. Und es gibt die Jahre danach. «Postheroisch», nun ja. Diederichsens Leitgedanke: Popmusik ist mehr als Musik. Immer geht es um Gegenkultur, um Entwürfe vom besseren Leben. Um den sozialen Raum schlechthin. Für Diederichsen ist Pop aber auch weniger als Musik: Pop ist Ware, zugerichtet nach dem aktuellen Stand der Marktverhältnisse. Pop, ein grosser Konformismus, jederzeit à jour und dem Kapital zu Diensten.
Die Brausetablette
Beides gehört zusammen, der Widerspruch ist flagrant. Aber Diederichsen will sich entscheiden, am Ende – und sieht heute eher die völlige Auflösung der Popmusik im Konsum. Popmusik: Die Brausetablette im Warenmeer.
Das wirkt melancholisch in der Diagnose, trifft vielleicht eine Zeittendenz, aber bei diesem allerletzten Urteil ist zu Vorsicht geraten. Pop ist wohl noch immer für Überraschungen gut, immer noch gut für die Abweichungen von der Norm des Lebens.