Als Strassenkind kommt man auf der Strasse zur Welt, genauer auf einem Trottoir von Belleville, dem Arbeiterquartier nordöstlich des Pariser Zentrums. So will es Edith Piaf (1915-1963), die aus ihrer regulären Geburt im Hôpital Tenon eine spektakuläre Legende gestrickt und verschiedene Versionen in die Welt gesetzt hat.
Piaf erfand sich selbst, Geburt und Tod in Paris inklusive
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Demnach war ihre Mutter Annetta Jacqueline Gassion, geborene Maillard, in der kalten Dezembernacht des Jahres 1915 alleine unterwegs gewesen. Als die Wehen einsetzten und das Wasser brach, kam ihr ein Streifenpolizist zu Hilfe und stellte ihr seinen Regenumhang «als Unterlage für die Entbindung» zur Verfügung. Wer in Paris geboren ist, will auch in Paris sterben. Edith Piaf starb am 10. Oktober 1963, nach Tagen quälender Agonie, im Hinterland von Cannes in der Nähe des Prominentendorfes Mougins. In einer halsbrecherischen Fahrt wurde sie über Nacht nach Paris gefahren. Einer ihrer Vertrauensärzte war auf ihren Wunsch hin vor Ort gekommen und erklärte seine Patientin erst am Morgen des 11. Oktober für tot.
Bisherige Biografien betreiben nur Legendenbildung
Edith Piaf ist eine Meisterin der Selbstinszenierung und hat sich selbst «erfunden», ist ihr jüngster Biograf Jens Rosteck überzeugt. Der Publizist und Musikforscher ist der erste deutschsprachige Autor, der sich an die Lebensbeschreibung der Ikone des französischen Chansons gewagt hat und den 49 Piaf-Biografien eine 50. Darstellung hinzufügt. Das ist darum notwendig, weil die bisherigen Biografen die Lebensleistung der Sängerin und Darstellerin aussen vor lassen und statt dessen Legendenbildung betreiben – das gilt auch für Piafs Lebenserinnerungen, die sie befreundeten Journalisten «in die Feder diktierte» und die sich wie Romane lesen. Tollkühn geht es auch in Simone Berteauts Piaf-Saga zu, in der die Freundin und Akrobatin von den gemeinsamen Auftritten in der Pariser Bohème und den Erfahrungen im Rotlichtviertel Pigalle erzählt.
Verarmt, vernachlässigt, vereinsamt
Als gesichert gilt Piafs Herkunft aus einer Artistenfamilie und eine Kindheit, die keine war. Edith wuchs vernachlässigt von ihren Eltern bei ihrer Grossmutter auf und war sich selbst überlassen. Sie traf auf Armut und damit verbundene Folgen wie Unterernährung und Vereinsamung, bekam nach eigener Aussage «jeden Morgen die Flasche mit Rotwein», erduldete Hautkrankheiten und soll buchstäblich im letzten Moment von ihrem Vater «gerettet» worden sein.
Louis Gassion zog als Schlangenmensch durch die Lande, trat im Zirkus auf und tingelte auf eigene Rechnung. Plakate wiesen ihn als «contorsionniste mondain» (Verrenkungskünstler von internationalem Rang) aus. Die Mutter verkaufte auf Jahrmärkten Notriegel und schlug sich als Gelegenheitssängerin durch. Die Ehe zerbrach, kaum war Edith geboren.
Von der Gosse in die Carnegie Hall ...
Edith Piaf führte wie ihre Eltern ein Nomadenleben, bewegte sich in Clans und nicht in Familien und sprach in einem Interview von 1962 vom «Kampf», den sie gewinnen und niemals verlieren will. Das ist ihr, die immer wieder bei Null beginnt (wie es in ihrem populärsten Chansons, «Je ne regrette rien», heisst), auf schmerzhafte Weise gelungen.
Jens Rosteck beschreibt die «Stehauf»-Konditionierung einer Frau, die es von der Gosse in die Carnegie Hall in New York geschafft hat und sich das Chanson auf eine ganz eigene Weise erschloss. Sie sang von einer versunkenen Welt, etwa von Matrosen und Legionären, von «Freudenmädchen» und immer wieder von der Projektion des idealen Mannes und bedingungsloser Liebe. Diese Themen nahmen sich neben dem Profil eines Elvis Presley oder den Beatles merkwürdig altmodisch aus, trafen jedoch in der musikalischen Umsetzung und deren Interpretation bis hin zur Selbstaufgabe den Nerv der Zeit.
... ohne Rücksicht auf Verluste.
Edith Piaf kostete ohne Rücksicht auf ihre Stimme Grenzgebiete aus. Lange sang sie ohne direktes Mikrophon, stets in dem ihr eigenen ekstatischen Pathos, galt es doch, dem Publikum nach eigener Aussage «alles» zu geben. Der Hunger nach Applaus trieb sie an. Sie mutete sich in den 1950er-Jahren bis zu vier Auftritte pro Tag zu, war alkohol- und drogenabhängig und unterzog sich zahllosen Entziehungskuren. Gleichzeitig fesselte sie sich an die Überzeugung, «dass das Publikum das Recht hat, in die Intimität von Stars vor- und einzudringen. Niemals darf man es in dieser Hinsicht enttäuschen.» Das sagte sie einer Boulevard-Zeitung im Jahr 1962 und räumte der Sensationspresse den Rang ein, viel wichtiger für einen Künstler zu sein «als irgendwelche Kritiken».
Ihr Erfolg gab ihr insofern recht, als sich in Städten wie New York und Paris eine «Piaf-Manie» Bahn brach, die bis in die letzten Jahre trug und über den schleichenden Zerfall hinwegtäuschte. «Nichts als ihre Stimme bleibt, die alles in die Höhe hob, was sie sang» – so Jean Cocteau, der seine «grossartige Freundin» am Rundfunk verabschiedete und stellvertretend für jenes Publikum sprach, das die Lebensleistung Piafs bis heute hochhält.